Glauben wie ein Senfkorn
„Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, so würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Entwurzle dich und verpflanze dich ins Meer!, und er würde euch gehorchen“ (Lk 17,6).
Die bekannte Aussage Jesu, die von vielen als Aufruf zu mehr Glauben angesehen wird, ist zuerst einmal eine Reaktion Jesu auf die Forderung der Jünger: „Gib uns mehr Glauben!“ (V. 5). Wie alle Bibelstellen, muss auch diese Bibelstelle unbedingt in ihrem Kontext gelesen und verstanden werden.
Die Forderung der Jünger nach „mehr Glauben“ klingt ja erst einmal nach einem sehr guten und noblen Wunsch. Nachdem Jesus in einigen Gleichnissen an die Pharisäer aufgezeigt hat, dass vor Gott ein bußfertiges Herz zählt und nicht Reichtum, Ansehen oder ein selbstgerechtes Verhalten (vgl. Lk 15-16), wendet Er sich nun an die Jünger und macht ihnen klar, dass Sünde eine sehr ernste Angelegenheit ist, bei der es einige wichtige Punkte zu beachten gibt; wie den, dass Verführung zwar unvermeidlich ist, Gott aber hart mit denen ins Gericht geht, die andere in Versuchung führen (V.1-2); oder den, dass wir, sollte jemand uns gegenüber schuldig werden, dieselbe Barmherzigkeit an den Tag legen sollen, wie sie beispielsweise kurz zuvor der Vater in dem Gleichnis vom Verlorenen Sohn zeigte (V.3-4; vgl. 15,20 ff.).
Zurecht stellen die Jünger daraufhin fest: Dafür benötigen wir viel Glauben! Und daher die Forderung der Jünger an Jesus: „Gib uns mehr Glauben!“
Interessant ist hier Jesu Reaktion darauf. Anstatt ihren Wunsch gut zu heißen oder zumindest freudig anzuerkennen, dass sie den Sinn seiner Rede verstanden und ihre eigene Ohnmacht erkannt haben, greift Jesus nach einem neuen Bild, indem Er zu ihnen sagt:
„Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, so würdet ihr zu diesem Maulbeerfeigenbaum sagen: Entwurzele dich und pflanze dich ins Meer! Und er würde euch gehorchen“ (V.6).
Ist das jetzt, wie so häufig dargestellt, eine Aufforderung Jesu, dass die Jünger sich nach mehr Glauben sehnen sollten, indem Er ihnen vor Augen führt, was ein sehr kleines Maß an Glauben bewirken könnte? Macht das Sinn, nachdem die Jünger ihren Wunsch nach „mehr Glauben“ doch bereits deutlich ausgedrückt hatten?
Es geht nicht um mehr Glauben
Nein, Jesus möchte mit dieser Aussage den Jüngern bewusst machen, dass sie nicht mehr Glauben benötigen. Entscheidend ist nicht ein großer Glaube, sondern der Glaube an einen großen Gott. James Edwards schreibt in seinem Kommentar zum Lukas-Evangelium über diesen Vers:
„Der Punkt ist klar. Christen, auch Apostel, zeichnen sich nicht durch die Größe ihres Glaubens aus, sondern durch den Einsatz ihres Glaubens; nicht die Größe des Glaubens entscheidet, sondern ob der Glaube zum Handeln führt, selbst dann, wenn er nur so groß wie ein Senfkorn ist.“
James Edwards
Allerdings soll das nicht bedeuten, dass wir Christen nicht im Glauben wachsen sollten; dazu fordern uns die Apostel in vielen ihrer Briefe heraus. Paulus dankt zum Beispiel im Thessalonicherbrief Gott dafür, dass der Glaube der Christen in Thessaloniki reichlich wächst und dadurch ihre Liebe zunimmt (vgl. 2Thess 1,3). Und in Bezug auf die Korinther hofft er, dass das Evangelium durch sie weite Kreise zieht, wenn ihr Glaube wächst (vgl. 2Kor 10,15). Wir sehen also, ein wachsender Glaube ist durchaus nötig und gut. Ein wachsender Glaube rüstet aus, stärkt, verändert und ehrt Gott.
Dennoch zeigt der nächste Abschnitt, dass Jesus die Perspektive seiner Jünger verändern möchte. Sie erhoffen sich Hilfe von einem größeren Glauben. Sie sind der Meinung, wenn wir nur in diesem Punkt weiter wären, dann würden uns Jesu Predigten nicht mehr überfordern und wir könnten größere Dinge vollbringen. Lesen wir aber den nächsten Abschnitt, dann scheint es so, als wäre die Frage nach dem größeren Glauben abgeschlossen und Lukas zu einem völlig anderen Ereignis übergegangen:
„Wer aber von euch, der einen Sklaven hat, der pflügt oder hütet, wird zu ihm, wenn er vom Feld hereinkommt, sagen: Komm und leg dich sogleich zu Tisch? Wird er nicht vielmehr zu ihm sagen: Richte zu, was ich zu Abend essen soll, und gürte dich und diene mir, bis ich gegessen und getrunken habe; und danach sollst du essen und trinken? Dankt er etwa dem Sklaven, dass er das Befohlene getan hat? Ich meine nicht. So sprecht auch ihr, wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist: Wir sind unnütze Sklaven; wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren“ (V.7-10).
Tatsächlich scheint es auf den ersten Blick, als hätten diese Abschnitte (zuerst das Thema der Vergebung und die Bitte um Glauben mit dem Vergleich des Maulbeerbaums und dann die Sache mit dem Sklaven und seinem Herrn) nichts miteinander zu tun. Beachtet man aber, dass Lukas in seinem Evangelien Bericht durchweg thematisch aufbaut, wird der Zusammenhang deutlich. Die „Geschichten“ mit dem Maulbeerfeigenbaum und dem Sklaven sind beides Antworten Jesu auf die Forderung der Jünger.
Tut ihr, was in eurer Verantwortung liegt
Während Jesus mit dem Maulbeerfeigenbaum-Vergleich die Perspektive seiner Jünger verändern – weg von der Hoffnung auf „mehr Glauben“ – und ihnen deutlich machen will, dass nicht die Menge an Glauben entscheidet, zeigt Er ihnen mit der zweiten Geschichte, dass sie herausgefordert sind, mit dem Maß an Glauben, das Gott ihnen gegeben hat, treu ihre Aufgabe als Knechte zu erfüllen. Jesus gibt ihnen also eine seelsorgerliche Ermutigung und Er fordert sie gleichzeitig auf, das zu tun, wozu Er sie als ihr Herr beauftragt hat. Das Beispiel mit dem Knecht und seinem Herrn zeigt ihnen auch, dass es nicht an ihnen liegt, Forderungen zu stellen. Denn seit wann bedient der Herr den Sklaven? Es ist, als würde Jesus ihnen sagen: „Tut Ihr, was in eurer Verantwortung liegt, und ich sorge für das Nötige!“
Wir neigen leicht dazu, mehr zu wollen, größere Dinge vollbringen zu wollen und übersehen dabei unsere „kleinen Berufungen“. Während ein Glaube, der Bäume verpflanzt in unseren Augen gewaltig, überwältigend und vorzeigbar ist, zeigt uns Jesus in diesem Abschnitt, dass dahinter schnell unser Wunsch nach dem eigenen Wohl und der eigenen Ehre stehen kann. Auch wenn Gott seine erwählten Gläubigen als seine geliebten Kinder ansieht, und Jesus davon spricht, dass Er uns „Freunde“ und nicht mehr „Sklaven“ nennt, sollte unser persönliches Selbstbild unbedingt den Aspekt enthalten, dass wir noch immer „unnütze Knechte“ sind. Es geht zuerst um Gott, um seine Ehre, seinen Willen und seine Herrschaft; und wir sollten das tun, was wir zu tun schuldig sind! Oder wie das jüdische Sprichwort sagt: „Wenn du dich an das Gesetz hältst, erwarte kein Lob, denn schließlich wurdest du dazu geschaffen.“