4 Mythen über Vergebung
Viele von uns kennen das Vaterunser, in dem Jesus seinen Jüngern ein Beispiel dafür gibt, wie sie beten sollen. In diesem Gebet erinnert Jesus uns daran, dass wir nicht nur unsere grundlegenden physischen Bedürfnisse von Gott erbitten sollen, sondern ihn auch darum bitten sollen, unsere grundlegende geistliche Not zu lindern, indem er uns unsere Sünden vergibt: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ (Lk 11,4).
Vergebung ist eine wundervolle Botschaft. Während andere Weltanschauungen lediglich Moralismus oder den Versuch der Selbstverbesserung bieten, richtet sich die christliche Botschaft insbesondere an die Unwürdigen, Verlorenen, Bedrängten und Sünder.
Wenn wir jedoch nicht aufpassen, können wir verschiedene Missverständnisse über das Wesen der Vergebung entstehen lassen – Mythen über Vergebung, die die Bibel zum Glück ausräumt.
Mythos Nr. 1: Uns muss nur einmal vergeben werden
Wenn ein aufmerksamer Christ diese Worte Jesu liest, stellt sich ihm unweigerlich die folgende Frage: „Wenn mir doch ein für alle Mal vergeben wurde, als ich im Glauben mein Vertrauen auf Jesus Christus gesetzt habe, warum muss ich dann noch um Vergebung bitten?“
Die Antwort der Schrift ist eindeutig. Die Bibel lehrt uns, dass, wenn ein Mann oder eine Frau ihr Vertrauen in Jesus setzt, ihre Sünden bereut und das freie Angebot des Evangeliums annimmt, die Sünde nicht automatisch aus ihrem Leben ausradiert wird. Auch wenn die Macht der Sünde gebrochen ist, sündigen wir weiterhin. Wir verfehlen immer noch das Ziel.
Bedeutet das, dass wir unsere Errettung oder unsere Beziehung zu Gott verlieren, wenn wir sündigen, und den ganzen Prozess daher noch einmal von vorne beginnen müssen, damit die Strafe beseitigt wird? Auf keinen Fall! Wenn Gläubige sündigen, bleibt die Beziehung zu Gott als unserem Vater bestehen. Beeinträchtigt ist jedoch die Freude in dieser Beziehung.
Als er über die christliche Lehre von der Buße nachdachte, schrieb Johannes Calvin:
Solange wir in dem Gefängnis unseres Körpers wohnen, müssen wir ständig mit den Mängeln unserer verdorbenen Natur, ja mit unserer eigenen natürlichen Seele kämpfen. … Das Leben eines Christenmenschen ist eine ständige Anstrengung und Übung in der Abtötung des Fleisches, bis es völlig getötet ist und Gottes Geist in uns regiert. (Institutio 1.614-15)
In seinem ersten Brief drückt der Apostel Johannes den Wunsch aus, dass diejenigen, die Christus nachfolgen, die Sünde ernst nehmen. In Kapitel 2,1 sagt Johannes sogar: „Meine Kinder, ich schreibe euch dies, damit ihr nicht sündigt.“ Aber wenn wir dennoch sündigen, fährt er fort: „wir haben einen Beistand bei dem Vater: Jesus Christus, den Gerechten. Und er ist die Sühnung für unsere Sünden“ (1Joh 2,1-2).
Wir haben jemanden, der an unserer Stelle in die Gegenwart des Vaters tritt. Wenn wir sündigen, sagt Jesus: „Ich bin für diese Sünde gestorben, Vater. Rechne sie ihm nicht an.“
Deshalb ist es unerlässlich, dass wir mit Gott ins Reine kommen. Wenn wir unsere Sünden bekennen, sobald sie uns bewusst werden, können wir in Gemeinschaft mit Gott leben und ein reines Gewissen haben. Dann können wir ein christliches Leben führen, das „ihm wohlgefällig ist“ (Kol 1,10), und es mit Dankbarkeit erfüllen.
Mythos Nr. 2: Gott vergibt uns, weil wir anderen vergeben
Einige lesen die Worte von Jesu Gebet in Lukas 11,4 rückwärts: „Vergib uns unsere Sünden, weil wir auch allen vergeben, die an uns gesündigt haben.“ Anders ausgedrückt: „Wir sind gut darin, anderen zu vergeben, also wirst du uns hoffentlich auch vergeben, Gott.“
In der Heiligen Schrift steht jedoch, dass der Vergebene der Vergebende sein soll und nicht umgekehrt. Vergebung entspringt der Gnade Gottes und nicht irgendeinem menschlichen Verdienst. Sie ist auch nicht das Ergebnis unserer Bemühungen, allen anderen gegenüber gnädig und vergebend zu sein.
Wenn wir bedenken, wie groß unsere Vergehen gegen Gott sind, werden die Verletzungen, die andere uns zufügen, relativiert. Deshalb beantwortet Jesus in Matthäus 18 die Frage von Petrus: „Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der gegen mich sündigt, vergeben?“, mit: „Ich sage dir: Nicht bis siebenmal, sondern bis siebzigmal siebenmal!“ (Mt 18,21-22). Er gab Petrus keine konkrete Zahl, sondern sagte stattdessen: „Wie wäre es mit einer Zahl, die du niemals erreichen wirst?“
Nachdem Jesus Petrus’ Frage beantwortet hatte, erzählte er eine Geschichte, um seinen Punkt zu veranschaulichen.
„Deswegen ist es mit dem Reich der Himmel wie mit einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte. Als er aber anfing abzurechnen, wurde einer zu ihm gebracht, der zehntausend Talente schuldete. Da er aber nicht zahlen konnte, befahl der Herr, ihn und seine Frau und die Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und damit zu bezahlen. Der Knecht nun fiel nieder, bat ihn kniefällig und sprach: Herr, habe Geduld mit mir, und ich will dir alles bezahlen. Der Herr jenes Knechtes aber wurde innerlich bewegt, gab ihn los und erließ ihm das Darlehen“ (Mt 18,23-27).
Man sollte meinen, dass dieser Mann, dem eine so große Schuld erlassen wurde – eine Schuld, die sich in unserer Zeit auf Millionen von Euros belaufen würde –, sich so sehr über diese Nachricht freuen würde, dass er sein gesamtes Vermögen an die Menschen auf der Straße verschenken würde. Schau dir jedoch an, was stattdessen geschah.
„Jener Knecht aber ging hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldig war. Und er ergriff ihn und würgte ihn und sprach: Bezahle, wenn du etwas schuldig bist! Sein Mitknecht nun fiel nieder und bat ihn und sprach: Habe Geduld mit mir, und ich will dir bezahlen. Er aber wollte nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er die Schuld bezahlt habe“ (Mt 18,28-30).
Es ist unvorstellbar, dass wir, denen eine so große Schuld vergeben wurde, es jemals versäumen sollten, die Schuld zu vergeben, die andere aufgrund dessen, was sie uns angetan haben, uns gegenüber haben. Vergebung ist nicht die Belohnung Gottes für unsere Vergebungsbereitschaft. Vielmehr offenbaren wir unsere Erfahrung der Vergebung in Christus, indem wir die Sünden der anderen uns gegenüber vergeben.
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Mythos Nr. 3: Vergebung ist ein Gefühl
Im Epheserbrief fordert Paulus seine Leser auf: „Seid aber zueinander gütig, mitleidig, und vergebt einander, so wie auch Gott in Christus euch vergeben hat“ (Eph 4,32). Dieser kleine Nachsatz „so wie auch Gott in Christus euch vergeben hat“ ist sehr wichtig. Sie sagt uns, dass wir unsere Vergebung nach dem Vorbild der Vergebung Gottes ausrichten sollen. Und wie die Bibel lehrt, kommt die Vergebung von Gott zu uns. Sie ist nicht nur Ausdruck seines Herzens, sondern auch Verheißung seines Wortes.
Wenn Gottes Vergebung uns gegenüber also das Vorbild für unsere Vergebung gegenüber anderen sein soll, dann geht es bei unserer Vergebung nicht darum, ein bestimmtes Gefühl heraufzubeschwören. Es geht vielmehr darum, ein Versprechen abzugeben.
Wenn wir einer anderen Person Vergebung zusprechen, sollte dies mit einem dreifachen Versprechen einhergehen:
(1) Ich werde dir die Sache nicht wieder vorhalten.
(2) Ich werde die Sache nicht gegenüber jemand anderem hervorholen.
(3) Ich werde die Sache nicht für mich selbst wieder hervorholen. Diese Herangehensweise unterscheidet sich stark von dem, was die meisten von uns unter Vergebung verstehen. Wenn ich in ein oder zwei Augenblicken bereit bin, das Thema wieder aufzugreifen, habe ich meinem Bruder oder meiner Schwester nicht von Herzen vergeben.
Das soll jedoch nicht heißen, dass Vergebung nur eine Frage des Verstandes ist. Es ist etwas, das sowohl unseren Verstand als auch unser Herz anspricht. Am Ende des Gleichnisses vom unbarmherzigen Knecht, nachdem Jesus die Strafe beschrieben hat, die den Knecht erwarten würde, warnt er seine Jünger: „So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebt“ (Mt 18,35).
Unsere Vergebungsbekundungen müssen echt sein. Wir sind nicht nur dazu aufgerufen, die richtigen Worte zu sagen. Vielmehr sollen wir einander vermitteln, dass wir einander von ganzem Herzen vergeben – nicht, weil wir Lust dazu haben, sondern weil wir den echten Wunsch haben, Gott zu gefallen, der uns so viel vergeben hat.
Mythos Nr. 4: Vergeben bedeutet, dass keine Konsequenzen folgen
Vergebung kann ein wunderbares Gefühl der Freiheit auslösen. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine Konsequenzen hat, wenn wir jemandem verzeihen. Ich vergebe meinem Kind beispielsweise, dass es rücksichtslos Auto gefahren ist, aber es muss den Strafzettel trotzdem bezahlen. Die Tatsache, dass es Strafen gibt, mildert meine Vergebung in keiner Weise. Ich vergebe ihm, aber es muss trotzdem die Konsequenzen tragen.
In gleicher Weise müssen wir darauf achten, dass unsere Sünden Schaden hinterlassen – Schaden, der wiedergutgemacht werden muss.
Es gibt eine Geschichte von einem ungehorsamen Jungen und seinem Vater. Jedes Mal, wenn der Junge etwas falsch machte, ging der Vater in den Schuppen hinter dem Haus und schlug einen großen Nagel in die Tür. Eines Tages kam der Junge zu seinem Vater und bat ihn, ihm alle seine Fehler zu vergeben, ihn zu reinigen und ihm zu helfen, keine Fehler mehr zu machen. Der Vater stimmte zu, nahm den Hammer und begann, die Nägel nacheinander zu entfernen, bis sie alle weg waren. Am Nachmittag fand der Vater seinen Sohn, wie er vor der Schuppentür saß und bitterlich weinte. Als der Vater ihn fragte, was los sei, antwortete der Junge: „Nun, die Nägel sind weg, aber ich kann immer noch die Löcher in der Tür sehen.“
Wir alle haben die Lasten des Lebens zu tragen. Ja, Gott wird unsere Sünden vergeben und die Nägel entfernen. Dennoch werden viele von uns immer noch mit den Spuren in der Tür leben. Dennoch mindert die Existenz von Konsequenzen nicht die erfreuliche Realität der Vergebung.
Bedenke die gute Nachricht, die in der Bibel verkündet wird: Obwohl wir alle Gottes Schuldner waren und niemand von uns diese Schuld zurückzahlen konnte, wurde sie bereits durch das stellvertretende Opfer Jesu gesühnt – für alle, die an ihn glauben. Er erduldete die ganze Strafe für unsere Sünden an unserer Stelle. Weil uns vergeben wurde, sollen auch wir anderen vergeben, die an uns schuldig geworden sind. So können wir die Gewissheit unserer eigenen Vergebung erfahren.
„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Was für eine wundervolle Hoffnung steckt in diesen Worten.
Dr. Alistair Begg ist Senior Pastor der Parkside Church in Cleveland, wo er seit 1983 dient. Er ist ebenfalls Herausgeber des Radioprogramms Truth For Life, sowie Autor mehrerer Bücher, von denen einige auch auf deutsch erschienen sind.
© Ligonier Ministries @ Tabletalk Magazine. Die Übersetzung und Wiedergabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung.