Sühne und Versöhnung
In der Welt des ersten Jahrhunderts war die römische Kreuzigung nicht nur eine schreckliche Form der Folter, die dem untersten Abschaum der kriminellen Klasse vorbehalten war, sondern auch mit großer Schande verbunden. Nicht nur waren römische Bürger von dieser erniedrigenden Todesstrafe ausgenommen, sondern sogar das Wort Kreuzigung wurde bei gesellschaftlichen Zusammenkünften vermieden.
Das jüdische Weltbild betrachtete die Kreuzigung unter dem Gesichtspunkt von 5. Mose 21,23, wo es heißt, dass jeder, der am Holz hängt, von Gott verflucht ist (vgl. auch Gal 3,13). Angesichts dessen müssen wir uns die Frage stellen, wie es kam, dass der Apostel Paulus und die anderen neutestamentlichen Autoren entschlossen sind, nichts anderes zu kennen als „Jesus Christus, und ihn als gekreuzigt“ (1 Kor 2,2), ja, Jesus als Gekreuzigten in der Verkündigung hervorzuheben (Gal 3,1) und sich „nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus“ zu rühmen (Gal 6,14)?
Die Antwort liegt zum Teil im alttestamentlichen Opfersystem des Tempels. Zum Lob seiner unermesslichen Weisheit gab Gott Israel Opfer, die als theologische Werkzeuge dienten, um sein Volk über die Reinigung von Sünde und die Notwendigkeit der Versöhnung mit Gott zu belehren.
Nach der Auferstehung Jesu und der Ausgießung des Heiligen Geistes konnten die Apostel in den Schriften des Alten Testaments erkennen, wie das System des Opferkultes von Gott verordnet worden war, um die Wunder Christi und sein vollbrachtes Werk am Kreuz zu entfalten (z.B. Röm 3,21-26; Hebr 9,16-10,18). Die verschiedenen Opfer ermöglichten den Paradigmenwechsel, das Kreuz Christi nicht als Quelle tiefer Scham zu sehen, sondern – auf wunderbare Weise – als Gottes größtes Geschenk an die Menschheit und als höchste Demonstration seiner Liebe zu den Sündern (Röm 5,8).
Für das Verständnis des Kreuzestodes Jesu als des einzigen Opfers, das die Vergebung unserer Sünden und die endgültige Versöhnung mit Gott sichern kann, sind zwei theologische Begriffe des Opfers besonders wichtig: Sühne und Versöhnung. Sühne bedeutet, dass das Opfer Jesu uns von der Verunreinigung durch die Sünde reinigt und die Schuld der Sünde von uns nimmt. Versöhnung bedeutet, dass der Zorn Gottes durch das Opfer Jesu besänftigt wurde, was sowohl Gottes Gerechtigkeit als auch sein Wohlwollen uns gegenüber zur Folge hat. Wir wollen nun diese Begriffe näher betrachten, indem wir ihre Wurzeln in den Opfern des Alten Testaments untersuchen.
Sühne
Sühne bezieht sich auf die Reinigung von Sünden und die Beseitigung der durch die Sünde entstandenen Schuld. Im Opfersystem Israels wurde das Blut der Opfertiere gesammelt und auf verschiedene Weise verwendet. Das Blut wurde verschmiert, gesprengt und vergossen. In 3. Mose 17,11 erklärt Gott: „Denn die Seele des Fleisches ist im Blut, und ich selbst habe es euch auf dem Altar gegeben“.
Hier wird der Gedanke der Stellvertretung betont: Das vergossene Blut eines fehlerlosen Stellvertreters steht für den Gedanken, dass ein Leben für ein Leben, eine Seele für eine Seele gegeben wurde. Am deutlichsten wird die Bedeutung des Blutes im Sündopfer. Durch das Vergießen und Verteilen des Blutes des Sündopfers lehrte Gott Israel die Notwendigkeit, ihre Sünden zu reinigen und die Befleckung und Schuld der Sünde zu entfernen, wodurch göttliche Vergebung möglich wurde (siehe 3Mo 4,20.26.31.35).
Auf der einen Seite symbolisierte das Blut den Tod: Das vor Gott dargebrachte Blut zeigte, dass ein Leben – wenn auch das Leben eines makellosen Tieres – den Tod, die Strafe für die Sünde, erlitten hatte. Auf der anderen Seite symbolisierte das Blut das Leben durch das Prinzip, dass das Leben den Tod besiegt, da das Blut im rituellen Sinne den Makel der Sünde und des Todes abwusch.
Der große Versöhnungstag war im Wesentlichen ein großes Sündopfer (3Mo 16). An diesem Herbsttag brachte der Hohepriester das Blut des Opfers in das Allerheiligste und sprengte es auf den Deckel der Bundeslade, den irdischen Fußschemel Gottes. Das Blut wurde auch in das Heiligtum gesprengt und an den äußeren Altar gestrichen, um sowohl die Israeliten als auch das Haus Gottes, die Stiftshütte, zu reinigen, damit Gott weiterhin unter seinem Volk wohnen konnte.
Das Sündopfer am großen Versöhnungstag bestand aus zwei Ziegenböcken. Nachdem der erste Bock mit seinem Blut geopfert worden war, wurde der zweite symbolisch mit der Sündenschuld Israels beladen, indem der Hohepriester seine Hand auf seinen Kopf legte und damit die Sünde des Volkes bekannte. Beladen mit der Schuld des Volkes, das das Gericht Gottes verdient hatte, wurde der Bock nach Osten in die Wüste geschickt, weit weg vom Angesicht des Herrn, um zu zeigen, dass „so fern der Osten ist vom Westen, hat er von uns entfernt unsere Vergehen“ (Psalm 103,12).
Das Sündopfer vermittelte den Aposteln ein tiefes Verständnis des Todes Jesu. Während das Blut von Stieren und Böcken niemals Sünden wegnehmen konnte (Hebr 10,4), reinigt das am Kreuz vergossene Blut Jesu, des menschgewordenen Gottes, durch den Heiligen Geist alle, die an ihn glauben, die Sünder von ihren Sünden. Die Dornen in seiner Stirn, ein Bild für die verfluchte Erde (vgl. 1Mo 3,18), sind ein Zeichen dafür, dass die Last der Schuld seines Volkes auf sein Haupt gelegt wurde und dass er an unserer Stelle das Gericht getragen hat, damit wir wirklich Sühne erlangen.
Versöhnung
Versöhnung bedeutet, den Zorn Gottes zu besänftigen und seine Gunst zu erlangen. Wenn wir uns der Lehre von der Versöhnung zuwenden, finden wir eine anschauliche Darstellung der Besänftigung des Zornes Gottes, wenn wir nun an das ganze Brandopfer denken. Der Gottesdienst Israels beruhte auf dem ganzen Brandopfer, so dass der Altar, der Mittelpunkt des Gottesdienstes, sogar „Brandopferaltar“ genannt wurde (2Mo 30,28).
Das erste Mal, dass wir in der Heiligen Schrift von einem Brandopfer lesen, ist in der Erzählung von der Sintflut in 1. Mose 6-9. Am Anfang lesen wir, wie Gott, der HERR, angesichts der Verdorbenheit der Menschheit von Herzen betrübt war (1Mo 6,6), so dass er beschloss, die Bösen zu richten, Noah und seine Familie aber zu retten. Die Krise der Geschichte ist also das verwundete Herz Gottes. Doch auch nachdem sich die Wogen des göttlichen Gerichts geglättet hatten, änderte sich die Situation nicht.
In bildlicher Sprache, die Gott menschliche Eigenschaften zuschreibt, beschreibt die Erzählung, wie der Herr den „lieblichen Geruch“ der Brandopfer riecht und sein Herz dadurch besänftigt wird (1Mo 8,21). Aufgrund des angenehmen Geruchs sprach Gott zu seinem eigenen Herzen und gelobte, nie wieder die ganze Menschheit durch so etwas zu vernichten, und er segnete Noah.
Wie wohlriechender Weihrauch stieg der Rauch des ganzen Brandopfers zum Himmel zu Gott auf, und er roch den Wohlgeruch und wurde beruhigt. Gottes Herz war beruhigt, das heißt, sein gerechter Zorn war besänftigt. Später, zur Zeit des Mose, befahl Gott den Priestern, täglich Brandopfer von Lämmern darzubringen (2Mo 29,38-46). Diese Morgen- und Abendopfer dienten dazu, den Tag zu beginnen und zu beenden – vergleichbar mit dem täglichen Leben der Israeliten -, so dass alle anderen Opfer in ihrem aufsteigenden Rauch eingeschlossen waren.
Die Tatsache, dass das Brandopfer von Gott selbst eingesetzt wurde, wirft die Frage nach seiner theologischen Bedeutung auf. Eine Besonderheit dieses Opfers bestand darin, dass das ganze Tier mit Ausnahme der Haut auf dem Altar Gott dargebracht wurde; nichts wurde zurückgehalten. Das Brandopfer symbolisierte somit ein Leben der völligen Hingabe an Gott, das gleichbedeutend war mit einem Leben der Selbstverleugnung und des Gehorsams gegenüber dem Gesetz Gottes. In den Worten des 3. Buches Mose stand und besiegelte dieses Opfer die Liebe zu Gott mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzer Kraft (3Mo 6,5). Ein solches Leben, das nur Jesus selbst Gott darbringen konnte, ist für Gott wie ein lieblicher Wohlgeruch und versöhnt ihn.
Jesus erfüllte das levitische Opfersystem, indem er sich selbst am Kreuz Gott als derjenige darbrachte, der das Gesetz erfüllt hatte. In seiner Todesnacht betete er im Garten Gethsemane: „Mein Vater … nicht mein, sondern dein Wille geschehe“ (Mt 26,39). Dann trank er den Kelch des göttlichen Gerichts als unser fehlerloser Stellvertreter. Jesu Leben der völligen und liebenden Hingabe an Gott, das er dem Vater durch den Geist bis zu seinem Tod am Kreuz dargebracht hat, hat den Zorn Gottes besänftigt.
Weil Jesu Leiden ein freiwilliges stellvertretendes Opfer war, können Sünder Ruhe für ihre Seelen finden. Das drohende Gewitter des göttlichen Gerichts, das uns immer wieder bedroht und unsere vergeblichen Versuche, glücklich zu sein, überschattet, lässt sich nicht durch Wunschdenken oder falsche Behauptungen vertreiben.
Ein Christ kann sich nur deshalb sicher in den warmen Strahlen der Gunst des Vaters sonnen, weil der Sturm des Gerichts bereits in vollem Umfang über den gekreuzigten Sohn Gottes hereingebrochen ist. Sein vergossenes Blut reinigt uns von unseren Sünden und befreit uns vor Gott von unserer Schuld. Sein aufrichtiges, gesetzestreues Leben, das er Gott am Kreuz dargebracht hat, während er unsere Strafe trug, steigt wie ein Wohlgeruch zum Himmel auf. Hier hat der größte Sünder endlich Grund, sich zu rühmen, und zwar in nichts anderem als in dem, der „uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat als ein wohlriechendes Opfer für Gott“ (Eph 5,2).
Dr. L. Michael Morales ist Professor für Biblische Studien am Greenville Presbyterian Theological Seminary, Hilfsprofessor am Reformed Theological Seminary und Ältester in der Presbyterian Church in America.
© Ligonier Ministries @ Tabletalk Magazine. Die Übersetzung und Wiedergabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung.