Es ist ein Ros entsprungen

Es ist ein Ros entsprungen

Wenn mich jemand fragt, welches Weihnachtslied mein Favorit ist, dann antworte ich gerne: Das mit dem entlaufenen Pferd!, nur um dann verwirrte Gesichter zu ernten. Wem es so ging, wie mir in meiner Kindheit, der weiß sofort, dass es sich dabei um das Lied „Es ist ein Ros entsprungen“ handelt.

Als Kind dachte ich, das Lied handle von einem Ross, das über einen Zaun in die Freiheit gesprungen sei. Irgendwann klärte mich meine Mutter über meinen Irrtum auf, aber selbst dann konnte ich nur wenig mit der Bildersprache des Liedes anfangen.

Heute gehört es zu meinen liebsten Weihnachtsliedern, und das nicht nur wegen der getragenen Melodie, sondern auch, weil der Liedtext ein schönes alttestamentliches Bild von Gottes Heilshandeln aufgreift. Die Bibelstelle dazu finden wir beim Propheten Jesaja.

Der historische Hintergrund von „Es ist ein Ros entsprungen“

„Es ist ein Ros entsprungen“ tauchte zum ersten Mal im Jahr 1599 im Speyerer Gesangsbuch auf, wobei der Komponist unbekannt bleibt. Ursprünglich besaß das Lied wohl nur zwei Strophen (die heute bekannten Strophen 1 und 2) und war römisch-katholischen Ursprungs. Das geht aus der zweiten Strophe hervor, in der es von Maria am Ende heißt: „Und hat ein Kind geboren / und blieb doch reine Magd“ – eine Anspielung auf die römisch-katholische Lehre, dass Maria auch nach der Geburt Jesu ihr Leben lang Jungfrau blieb.

Da Protestanten dieses Lied allerdings auch guten Gewissens singen wollten, dichtete der Komponist Michael Prätorius im Jahr 1608 die zweite Zeile um. Jahre später, 1844, dichtete dann der lutherische Pfarrer Friedrich Layritz noch drei weitere Strophen hinzu, wobei in den heutigen Gesangbüchern nicht alle Strophen erwähnt werden. Meist stößt man, je nach Gesangsbuch, auf unterschiedliche Fassungen. Allein die ersten beiden Strophen des unbekannten Autors finden sich überall. Aber wovon handelt dieses Lied?

Es ist ein Ros entsprungen …

Es ist ein Ros entsprungen

Aus einer Wurzel zart,

Wie uns die Alten sungen,

von Jesse kam die Art.

Und hat ein Blümlein bracht,

mitten im kalten Winter,

wohl zu der halben Nacht.

Der Dichter beginnt sein Lied mit dem Bild einer kleinen Pflanze, einer zarten Rose, die in einer Winternacht erblüht. Wir sind versucht, hier an die winterblühende Christrose (oder Schneerose) zu denken, wäre da nicht der merkwürdige Zusatz „von Jesse kam die Art“. Mit diesem Hinweis greift der Dichter ein Thema des alttestamentlichen Propheten Jesaja auf. Das verrät uns auch die zweite Strophe: „Das Röslein das ich meine, davon Jesaias sagt …“.

Der zugrundeliegende Bibeltext ist Jesaja 11,1:

„Ein Spross wird hervorgehen aus dem Stumpf Isais, und ein Schössling aus seinen Wurzeln wird Frucht bringen.“

Im biblischen Kontext gebraucht der Prophet das Bild eines gefällten Baumes, den es zwar schwer getroffen hat, der jedoch nicht gänzlich tot ist, da aus seiner intakten Wurzel ein Spross, ein „Reis“ hervorwächst. Es entsteht neues Leben! Der Baum ist ein Bild für das abtrünnige Volk Israel, das Gott wegen ihrer Sünden richtet. Das Gericht, das Gott über sein Volk fällte, indem er sie der Hand der Babylonier auslieferte, traf Juda so schwer, dass der Prophet klagte:

„Hätte der HERR der Heerscharen uns nicht einen ganz kleinen Rest gelassen, wie Sodom wären wir, Gomorra wären wir gleich“ (Jes 1,9).

Der Gedanke, dass Gott sich einen kleinen Rest übriglassen würde, um durch ihn seine Heilsgeschichte weiterzuschreiben, taucht bei Jesaja in den ersten Kapiteln immer wieder auf (vgl. Jes 4,2-5; 6,13; 10,20-23). Somit ist der Wurzelspross, der aus einem neuen Baum erwächst, ein wunderbar passendes Bild für das gnädige, souveräne Handeln Gottes.

Vermutlich hat der Autor des Liedes diese Wahrheit aus dem alttestamentlichen Bild übernommen und bildlich weitergegeben, indem bei ihm der Reis zur Rose wird – eine zarte Pflanze, sozusagen ein Vorbote auf den Frühling, inmitten einer kalten, dunklen Winternacht.

… davon Jesaias sagt …

Das Röslein das ich meine,

davon Jesaias sagt:

Hat uns gebracht alleine,

Marie, die reine Magd.

Aus Gottes ewgem Rat

Hat sie ein Kind geboren,

welches uns selig macht.

Beachten wir aber den weiteren Kontext bei Jesaja, dann sehen wir, dass sich Gottes Heilshandeln auf eine ganz konkrete Person bezieht.

Mit „Jesse“ ist „Isai“ gemeint. (Der Name „Jesse“ anstellte von „Isai“ geht auf die mittelalterliche, lateinische Übersetzung des Alten Testaments, die Vulgata, zurück) Isai war der Vater von König David, dem Gott ein ewiges Königreich verheißen hatte (vgl. 2Sam 7,12-16). Trotz aller Gerichtsmaßnahmen versprach Gott, dass Er den Thron Davids und sein Königshaus in Seiner Gnade erhalten würde. Was dies beinhaltet, wird in den weiteren Versen von Jesaja 11 deutlich:

„Und auf ihm [dem Spross] wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Kraft, der Geist der Erkenntnis und Furcht des HERRN; und er wird sein Wohlgefallen haben, an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, und nicht zurechtweisen nach dem, was seine Ohren hören, sondern er wird die Geringen richten in Gerechtigkeit und die Elenden des Landes zurechtweisen in Geradheit. Und er wird die Gewalttätigen schlagen mit dem Stab seines Mundes und mit dem Hauch seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Schurz seiner Hüften sein und die Treue der Schurz seiner Lenden. […] Und an jenem Tag wird es geschehen: der Wurzelspross Isais, der als Feldzeichen der Völker dasteht, nach ihm werden die Nationen fragen; und seine Ruhestätte wird Herrlichkeit sein“ (Jes 11,2-10).

Hier ist von einem gerechten König die Rede, der sein Friedensreich unter allen Völkern aufrichten wird. Bereits Jesajas Zuhörer werden sich gefragt haben, wer dieser König ist und wann er kommen wird.

Unser Lieddichter schlägt nun die Brücke zum Neuen Testament, wenn er in der zweiten Strophe von „Marie, die reine Magd“ spricht, die nach dem ewigen Ratschluss Gottes ein besonderes Kind zur Welt bringen wird.

Auch hier greift der Dichter auf den Propheten Jesaja zurück, und zwar auf eine Stelle, die auch der Evangelist Matthäus bekanntermaßen mit der jungfräulichen Empfängnis verbindet:

„Und sie wird einen Sohn gebären, und du sollst seinen Namen Jesus nennen, denn er wird sein Volk retten von seinen Sünden. Dies alles geschah aber, damit erfüllt würde, was von dem Herrn geredet ist durch den Propheten, der spricht: ‚Siehe, die Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden seinen Namen Emmanuel nennen‘ was übersetzt ist: Gott mit uns“ (Mt 1,21-23).

… rettet von Sünd‘ und Tod …

Dieses unscheinbare Kind in der Krippe, „das Röselein so kleine“ ist die Antwort Gottes auf unser Sündenproblem, durch das wir von Gott und voneinander entfremdet sind (vgl. Jes 59). Davon handelt auch die dritte Strophe:

Das Röselein so kleine,

das duftet uns so süß,

mit seinem hellen Scheine

vertreibt’s die Finsternis.

Wahr‘ Mensch und wahrer Gott,

hilft uns aus allem Leide,

rettet von Sünd‘ und Tod.

Die späteren Lieddichter, die das Lied erweiterten, behielten es bei, die Aussprüche Jesajas zur Grundlage zu nehmen; die dritte Strophe bezieht sich auf Jesaja 9,1 und Vers 5, wo es heißt:

„Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein großes Licht. Die im Land der Finsternis wohnen, Licht leuchtet über ihnen. […] Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und man nennt seinen Namen: Wunderbarer Ratgeber, starker Gott, Vater der Ewigkeit, Fürst des Friedens.“

Die vierte und letzte Strophe unserer gängigen Version ist nicht länger in sinnbildlicher Sprache formuliert, sondern wendet sich direkt an den, der „wahr‘ Mensch und wahrer Gott ist“ – Jesus Christus.

Lass dein Hilf uns geleiten

O Jesu, bis zum Scheiden

aus diesem Jammertal

Lass dein Hilf uns geleiten

hin in der Engel Saal,

in deines Vaters Reich,

da wir dich ewig loben,

O Gott, uns das verleih!

Bei aller Hoffnung weiß der Dichter sich aber derzeit noch im „Jammertal“ dieser Welt und bittet Christus um sicheres Geleit ins ewige Reich des Vaters. Diese Bitte wird all jenen gewährt, die zuversichtlich an Gottes Verheißungen glauben. Ein letzter Blick in das Prophetenbuch Jesajas, ganz am Ende des Buches, offenbart uns das endzeitliche Heil Gottes:

„Und die Tage deiner Trauer werden ein Ende haben. Und dein Volk, sie alle werden Gerechte sein, werden das Land besitzen auf ewig, sie ein Schössling der Pflanzungen des HERRN, ein Werk seiner Hände, sich zu verherrlichen. […] Ich, der HERR, werde es zu seiner Zeit schnell ausführen“ (Jes 60,20-22).

Während Jesus auf der Erde lebte, gab er allen, die an ihn glauben, die sichere Zusage, dass er sie auch bis ans Ende bewahren würde:

„Dies aber ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich von allem, was er mir gegeben hat, nichts verliere, sondern es auferwecke am letzten Tag“ (Joh 6,39).

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht und hoffe, dass Sie die Hoffnung des Liederdichters kennen und Sie sich die kommenden Festtage freuen können, an denen die Christenheit das Kommen Jesu in diese Welt feiert.

Vielleicht kommt Ihnen Ihr Alltag aber auch vor wie die tiefste Finsternis, wie ein Jammertal, wie der Dichter es beschreibt. Fürchten Sie noch immer Sünd‘ und Tod und haben keine sichere Hoffnung auf Erlösung?

Dann bringen Sie Ihre Sorgen und Nöte im Gebet zu Christus, der spricht: „Kommt her zu mir, alle, ihr Mühseligen und Beladenen! Und ich werde euch Ruhe geben“ (Mt 11,28).

© Herold Mission.

Ähnliche Beiträge