Allgemeine Gnade

Die Herrlichkeit der allgemeinen Gnade

Mit der allgemeinen Gnade ist in der christlichen Theologie die Gnade Gottes gemeint, „mit welcher er Menschen zahllose Segnungen gewährt, die kein Bestandteil der Errettung sind“ (Wayne Grudem, Biblische Dogmatik).

Als Gott Adam und Eva im Garten Eden eine Welt voller Segnungen schenkte, die ihnen alles an Glück und Erfüllung bot und dabei nur eine winzige Einschränkung erhielt – das Verbot vom Baum der Erkenntnis zu essen -, sagte Gott zu Adam: „An dem Tag, da du davon isst, musst du sterben!“ (1Mo 2,17b).

Wir kennen den Ausgang der Geschichte: Adam meinte, es besser zu wissen, als Gott. Er entschied sich, sein eigener Gott zu sein und tat, was Gott ihm verboten hatte.

Aber, was geschah danach? Mussten Adam und Eva wirklich an dem Tag sterben, als sie beide von der verbotenen Frucht aßen? Zwar lesen wir, dass Gott beide aus dem Garten verbannte, aber es dauerte noch sehr lange, bis Adam starb: „Die gesamte Lebenszeit Adams betrug neunhundertdreißig Jahre, dann starb er“ (1Mo 5,5). Sollte die Schlange am Ende sogar recht behalten, als sie sagte: „Ihr werdet nicht sterben, … sondern euch gehen die Augen auf und ihr werdet sein wie Gott und erkennen, was Gut und was Böse ist“ (1Mo 3,5)?

Nein, denn Gott bezog sich in seiner Strafandrohung nicht nur auf den physischen Tod, sondern in erster Linie auf den geistlichen Tod – der sich im Verlust der Beziehung zu Gott äußert. Dieser geistliche Tod geschah sichtbar, als Adam und Eva noch am selben Tag aus Gottes Gegenwart vertrieben wurden. In dem Moment, in dem die beiden ersten Menschen gegen Gottes Herrschaft rebellierten, zerstörten sie auch die Beziehung zu Gott – und zueinander (vgl. 1Mo 3,7-13).

Doch auch körperlich begann für sie der Moment, in dem sie sich Gott widersetzten, ein Sterben auf Raten. Der Lohn der Sünde ist der Tod (Röm 6,23; vgl. 1Mo 20,7; 3Mo 24,16), und so wurden Adam und Eva – und durch sie die gesamte Menschheit – der Vergänglichkeit unterworfen (1Mo 3,19; Röm 8,20).

Die Schönheit der allgemeinen Gnade

Gottes Gnade und Weisheit sind so gewaltig, dass sich selbst der Fluch des Todes als indirekter Segen herausstellt. Durch den Tod wird uns ein Ende des Leidens und der Schmerzen in Aussicht gestellt. Der Tod steht für den Endpunkt eines Lebens in Sünde und Vergänglichkeit – sofern man sich in diesem Leben wieder der Herrschaft Gottes zuwendet.

Und auf diesem Weg von dem Hineingeborenwerden in die Sterblichkeit und Sünde bis zu ihrem Ende hält Gott für die Kinder Adams nach wie vor unzählige Segnungen bereit. Diese Segnungen haben einen vielfältigen Zweck. Sie sind ein Beweis für Gottes Existenz und dafür, dass Gott diese Welt noch immer mit barmherziger Gnade liebt – obwohl sie ihn und seine Herrschaft nach wie vor ablehnt.

Es gibt Segnungen, die von seiner Heiligkeit zeugen, aber auch von seiner Geduld. Es gibt Segnungen, die außerhalb des menschlichen Einflusses in der Natur zu beobachten sind, und Segnungen, die sich im menschlichen Wesen finden, von denen man in Zeitungen und im Internet liest, und die bei manchen den „Glauben an die Menschheit“ wieder erwachen lassen. Es sind Segnungen, die große Verantwortung mit sich bringen, Segnungen, die dabei helfen, Beziehungen zu heilen, oder sogar Segnungen, die von Menschen missbraucht werden und sich so ins Gegenteil verkehren.

Die allgemeine Gnade Gottes ist die Ursache für all die großen und kleinen Wunder in der Welt – wie beispielsweise dafür, dass nicht jeder Nachkomme Adams zu einem Brudermörder geworden ist – auch wenn wir alle dasselbe Potenzial dazu haben, wie Kain. Gott hält in seiner allgemeinen Gnade das Böse in Schach. Gleichzeitig versorgt er damit auch die Menschen aktiv mit Nahrung und Luft zum Atmen und beschenkt Christen wie Nichtchristen mit Verstand, Willen und Logik – auch wenn manche der scheinbar klügsten Männer und Frauen ihre gottgegebenen Intellekt dazu nutzen, zu behaupten, Gott würde nicht existieren.

Wir finden in der Bibel viele Beispiele der herrlichen Lehre von der allgemeinen Gnade – sowohl in der Art und Weise wie Gott an Menschen handelt, als auch in den Forderungen an sein Volk. In der Bergpredigt fasst Jesus beides wunderbar zusammen, als er sagte:

Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen. Damit erweist ihr euch als Söhne eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne über Bösen und Guten aufgehen und lässt es regnen für Gerechte und Ungerechte. (Mt 5,44-45)

In seiner allgemeinen Gnade behandelt Gott Menschen, die eigentlich die Hölle verdienen, voller Erbarmen und schenkt ihnen Gutes. Doch leider meint das sündige menschliche Herz, dass ihm das Gute zustehe, und dass alles, was davon abweicht, Unrecht sei und ein Beweis für Gottes Nichtexistenz oder seine Bosheit.

Wenn ein Tsunami oder ein Erdbeben passiert, fragt er: „Wie kann ein guter Gott so etwas zulassen?“ Solange aber alles gut läuft, kommt ihm kein Dank dafür über die Lippen. Denn genau so sollte es ja seiner Meinung nach normal sein.

Sobald ein Verbrechen geschieht, fragt dieser Mensch: „Warum lässt Gott solche Leute nicht sofort tot umfallen?“, aber für seine eigenen Verbrechen hat dieser Mensch immer eine Entschuldigung. Er sieht sie nicht einmal als Verbrechen an – auch nicht, wenn er seine Frau und Familie betrügt, die Gott ihm in seiner allgemeinen Gnade geschenkt hat, oder wenn er seinen Nachbarn hasst, weil dieser häufiger in den Urlaub fährt als in seinen Augen angemessen.

In den letzten Jahren, in denen wir – seit der Vernetzung der Welt – mit schlechten Nachrichten nur so überschwemmt werden, kommt immer häufiger die Frage: „Wenn es Gott gibt, warum geschieht dann so viel Leid in der Welt?“ Dabei müssten wir, wo wir das Potenzial an Schlechtigkeit und bösen Gedanken in uns selbst und unserem Umfeld kennen, uns doch fragen: „Warum geschieht nicht viel mehr Leid in dieser Welt?“ Oder: „Warum gibt es immer noch so viel Gutes in der Welt?“

Das Problem des menschlichen Herzens

Dabei kann der sündige Mensch, dem der rettende Glaube fehlt, Gottes allgemeine Gnade weder erkennen noch bestaunen. Doch indem Jesus uns, seine Jünger dazu auffordert, die zu lieben und denen Gnade zu erweisen, die uns schlecht behandeln und uns hassen, macht er deutlich, wie sich Gottes Gnade und Liebe selbst auf die Menschen erstreckt, die für Gott und seine Gnade blind sind und ihn hassen (vgl. Lk 6,35-36).

Seit Adams und Evas Fall leidet die Menschheit an Misstrauen gegenüber Gott und seinen Wegen. Der Zweifel, den Satan einmal in unsere Herzen gesät hat, ob Gott es wirklich gut mit uns meint, sitzt tief in unserem Fleisch wie ein rostiger Granatsplitter und gefährdet uns und unsere Urteilskraft.

Erst dann, wenn Gottes spezielle Gnade im Leben eines Menschen aktiv wird, indem Gott ihm ein neues Herz einpflanzt, das zwar nicht ganz immun gegen diesen Zweifel, aber mit dem nötigen, rettenden Glauben ausgestattet ist, wird ein Mensch fähig, Gottes Heiligkeit und Gerechtigkeit und die Realität seiner Sünde begreifen. Bis dahin sind wir blind für die allgemeine Gnade Gottes um uns her, die täglich, stündlich am Werk ist (vgl. Apg 14,15-17).

Dabei sorgt sich Gott in seiner Barmherzigkeit gerade um die Ärmsten und Schwächsten. In Psalm 10 heißt es über ihn, dass er ein Gott ist, der die Elenden nicht vergisst. Er schaut auf die Mühe und Not der Menschen, um sie selbst in die Hand zu nehmen. Er ist der Helfer der Witwen und Weisen (Ps 10,12-14). Und in Psalm 145 spricht David davon, dass Gott „gütig ist zu alle und sein Erbarmen mit allen seinen Werken“ ist (Ps 145,9).

Gott versorgt seine Schöpfung. Er schenkt allen Lebewesen in seiner Gnade, was sie brauchen – und zwar nicht nur den Menschen, sondern auch den Tieren. Kein Spatz fällt vom Himmel, ohne den Willen Gottes. Die Vögel des Himmels werden von ihm ernährt, alle Lebewesen hoffen auf ihn, dass er ihnen ihre Speise gibt zur rechten Zeit, zu seinem Wohlgefallen, sie werden satt von seinen guten Gaben. (Mt 10,29; 6,26; Ps 104,27-28; 145,15-16).

Das höchste Ausmaß der allgemeinen Gnade

Der Grund für diese göttliche Barmherzigkeit trotz Sünde und Rebellion gegen Gott findet sich in der Person Jesu Christi. Er ist auch der Grund, weshalb unsere heutige westliche Kultur so sehr von den Maßstäben der Nächstenliebe und der sozialen Gerechtigkeit geprägt ist. Die Grundlage unserer Kultur ist die christliche Botschaft des Evangeliums – auch wenn man es nicht zugeben mag.

Man denke nur an Menschen wie Nietzsche, der, obwohl er dem Christentum nicht folgte, doch so von dem Vorbild Jesu ergriffen war, dass er bei all seiner Kritik am Christentum Christus selbst nie kritisieren wollte und konnte. Dieser Jesus, der nicht nur forderte, seine Feinde zu lieben, sondern der es tatsächlich als Einziger vollkommen erfüllte. Jesus, dessen Gnade so weit reichte, dass er sein Leben gab, damit alle, die auf ihn vertrauen, nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben haben. Jesus, der seinen Reichtum und seine göttliche Herrlichkeit aufgab, damit andere durch ihn reich würden und die göttliche Herrlichkeit erleben.

Jesus, dessen Barmherzigkeit gegenüber den Schwächsten und Ausgestoßenen alle in den Schatten stellt, die mit bloßen Worten soziale Gerechtigkeit fordern. All die krampfhaften Versuche, fortschrittlich zu sein, in Bezug auf die Rechte von Unterdrückten, all die wahren Kämpfe um die Rechte von Menschen, wie die Abschaffung von Sklaverei, sie alle lassen sich nicht auf irgendwelche humanistischen oder sozialistischen Grundideen zurückführen und erst recht nicht mit der Evolutionstheorie erklären.

All dieses Ringen um wahre Gerechtigkeit und Freiheit gründet allein auf den Lehren und dem Vorbild Jesu Christi, der das höchste Ausmaß der Gnade Gottes ist – sowohl der allgemeinen als auch der speziellen Gnade.

Die allgemeine Gnade ist eine herrliche, biblische Lehre, die wir überall um uns herum entdecken können, wenn wir nur mit offenen Augen durchs Leben gehen.

All die Anschuldigungen, die heute gegen Gottes souveräne Herrschaft hervorgebracht werden, verstummen an dem Tag, an dem die Menschen vor Gott stehen, ihre Hände auf den Mund legen und sich schämen werden für die Missachtung seiner Herrschaft und Gnade. Sie werden ihre Knie vor ihm beugen und bekennen, dass Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters (Phil 2,9-10). Doch für viele von ihnen wird dieses Bekenntnis nicht mit Freude, Dankbarkeit und Hoffnung erfüllt sein, sondern mit Verzweiflung.

Deshalb ist es unsere Aufgabe und als Kinder Gottes, durch unser Zeugnis von Gottes allgemeiner Gnade und durch die Verkündigung des Evangeliums anderen die Wahrheit vor Augen zu führen, damit, sollte Gott in seiner speziellen rettenden Gnade ihnen die Augen öffnen, sie in Ewigkeit die Größe und Herrlichkeit seiner wunderbaren Gnade preisen!

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