Segen und Fluch

Segen und Fluch

Auch wenn Segnungen im Neuen Testament nur sehr selten erwähnt werden, ist es doch ein Konzept, das voll ins Herz des Evangeliums trifft. Eine solche Erwähnung finden wir zum Beispiel im Galaterbrief, als Paulus energisch die volle Zugehörigkeit der Heiden zum Volk Gottes verteidigt. Er schreibt:

Die Schrift aber, voraussehend, dass Gott die Nationen aus Glauben rechtfertigen werde, verkündete dem Abraham die gute Botschaft voraus: ‚In dir werden gesegnet werden alle Nationen‚“ (Gal 3,8).

Und dann, in den nächsten Versen, führt Paulus näher aus, dass der an Abraham verheißene Segen durch Jesus Christus zu allen Nationen kam (vgl. Gal 3,14).

Segen und Fluch im Alten Testament

Indem Paulus hier auf Abraham verweist, erinnert er uns daran, dass das Konzept von Segen und Fluch im 1. Buch Mose eine große Rolle spielt. Bereits nach der Schöpfung segnete Gott die Menschheit und gab ihnen die Anweisung, „seid fruchtbar, vermehrt euch und macht euch die Erde untertan“ (1Mo 1,28). Leider blieben Adam und Eva Gott nicht gehorsam, was dazu führte, dass Gott sie bestrafen musste. Der bisherige Segen wich dem Fluch, als Gott das Urteil aussprach, das Adam, Eva und all ihre Nachkommen treffen würde (vgl. 1Mo 3,16-19). Die Flüche, die Gott an jenem Tag über die Menschheit verhängte, stellen Mann und Frau gleichermaßen vor große Nöte – die gesamte Schöpfung hat darunter zu leiden.

Und vor eben diesem Hintergrund beruft Gott Abraham, um durch ihn einen neuen Segensprozess anzustoßen, durch den Gottes Volk wiederhergestellt wird. Insbesondere die zweite Hälfte der Zusage Gottes an Abraham verdeutlicht diesen Segen und dessen immense Bedeutung:

Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde! Und ich will dich zu einer großen Nation machen, und du sollst ein Segen sein! Und ich will segnen, die dich segnen, und wer dir flucht, den werde ich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde!“ (1Mo 12,1-3).

Die mehrmalige Wiederholung des Wortes „segnen“ betont die wichtige Rolle, die Gott für Abraham vorgesehen hatte. Durch Abraham hatte Gott die Möglichkeit eröffnet, dass viele Menschen wieder in den Genuss des Segens Gottes kommen würden.

Obwohl die Verheißung des Segens historisch mit Abraham beginnt, erfüllt sie sich doch erst nach und nach durch einen Teil der Nachkommenschaft Abrahams, den Gott auswählt und immer wieder neu bestätigt. Denn Gott hatte Abraham bereits angekündigt, dass der „Segen für alle Nationen“ durch einen einzelnen Nachkommen kommen sollt: „…und deine Nachkommenschaft wird das Tor ihrer Feinde in Besitz nehmen. Und in deinem Samen werden gesegnet sein alle Nationen der Erde, weil du meiner Stimme gehorcht hast“ (1Mo 22,17b-18).

Die „Nachkommenschaft“, von der Gott hier spricht, bezieht sich auf die Linie, die von Isaak, Jakob und schließlich Josef abstammte; sie alle waren für andere ein Segen. Da sehen wir besonders im Beispiel Josefs, durch dessen Hilfe die Völker des Orients vor der Hungersnot gerettet wurden. Auffallend ist hier aber auch, dass die „Nachkommenschaft“ mit dem Königtum verbunden wird (vgl. 1Mo 17,6.16; 35,11; 27,39; 37,8; 49,8-10). Deshalb bestand schon seit Abraham die Erwartung, dass ein Teil des göttlichen Segens darin bestehen würde, dass ein zukünftiger König aus Abrahams Nachkommenschaft allen Völkern Segen bringen würde.

Die Hoffnung auf Erfüllung richtete sich zuerst auf das Königtum Davids, erfüllte sich aber letztendlich in Jesus Christus (vgl. Mt 1,1-7).

Segen und Fluch im Neuen Testament

Dass die Verheißung Gottes an Abraham, alle Völker der Erde zu segnen, ihre Erfüllung in Jesus Christus findet, bestätigt uns nicht nur Paulus im Galaterbrief, sondern auch Petrus in Apostelgeschichte 3 in seiner Rede an die in Jerusalem anwesenden Juden:

Ihr seid die Söhne der Propheten und des Bundes, den Gott euren Vätern verordnet hat, als er zu Abraham sprach: ‚Und in deinem Samen werden gesegnet werden alle Geschlechter der Erde.‘ Euch zuerst hat Gott seinen Knecht erweckt und ihn gesandt, euch zu segnen, indem er einen jeden von euch von seinen Bosheiten abwendet“ (Apg 3,25-26).

Hier wird klar: Jesus Christus ist der, durch den Gottes Segen zu allen Völkern der Erde kommt. Doch dies gilt nur jenen, die von ihrer Bosheit umkehren.

Schauen wir noch einmal zurück in den Galaterbrief, dann fällt auf, dass hier nicht nur sehr deutlich betont wird, dass Jesus den Segen bringt, sondern auch, dass er selbst „ein Fluch für uns geworden ist“ (vgl. Gal 3,13), denn, so wird uns gesagt: „Verflucht ist jeder, der sich nicht an alles hält, was im Buch des Gesetzes geschrieben ist, um es zu tun!“ (Gal 3,10).

Damit bezieht sich Paulus auf den Bundesschluss am Sinai. Als Gott diesen Bund später in der Ebene von Moab mit dem Volk Israel erneuerte, gab Mose den Leviten das Buch des Gesetzes (vgl. 5Mo 31,24-26); darin waren sowohl die Segnungen aufgeschrieben, die Israel erfahren sollte, wenn sie Gottes Bund treu blieben (vgl. 5Mo 28,1-4), als auch die Flüche, die über sie kommen würden, falls sie gegen den Bund verstießen (vgl. 5Mo 28,15-68; 27,15-26). Dass die Liste mit Flüchen länger ist als die der Segnungen deutet das kommende Unheil schon an. Und auch die letzten Worte von Mose an das Volk sind ein weiterer Hinweis darauf, dass der kommende Ungehorsam der Israeliten Gottes strenges Gericht zur Folge haben würde.

Somit ist der Bezug, den Paulus in Galater 3 herstellt, ganz bewusst gewählt, um seine Zeitgenossen darauf hinzuweisen, dass die Flüche des Sinai-Bundes über seine jüdischen Landsleute gekommen sind – ihn eingeschlossen!

Segen und Fluch und die Erfüllung in Jesus Christus

Paulus ist davon überzeugt, dass das gesamte Volk Israel unter Gottes Fluch steht, weil es darin versagt hat, sich „an alles zu halten, was das Gesetz fordert“. Israel hat sein Anrecht auf Gottes Segnungen genauso verloren wie die übrigen Völker auch. Und wenn man Paulus liest, wird deutlich, dass auch er sich selbst als jemanden sieht, der unter dem gerechten Verdammungsurteil Gottes steht. Deshalb ist es ihm so wichtig, zu betonen, dass Jesus „ein Fluch für uns geworden ist“ – also für Menschen, die wissen, dass sie unter Gottes Fluch stehen.

Während die strengen Juden darauf drängten, dass Heiden sich zum Judentum „bekehren“ müssten, um in den Genuss der Segnungen Gottes zu kommen, stand Paulus vehement dafür ein, dass ihnen dies nichts nützen würde, da alle Segnungen uns allein durch Jesus Christus zufließen.

Um die Tragweite von Jesu Tod am Kreuz begreifen zu können, ist es also wichtig, das Konzept von Segen und Fluch zu verstehen. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, dass auch Jesus selbst in seinen Predigten den Segnungen Gottes einen großen Stellenwert gibt. Seine Bergpredigt beginnt mit den Seligpreisungen, wo er die Merkmale derjenigen beschreibt, die von Gott gesegnet sind. Er betont dabei auch, dass wir diese Segnungen nicht immer sofort am eigenen Leib erfahren. Jesu Perspektive in Matthäus 5 ist auf die Ewigkeit ausgerichtet, was nahelegt, dass sich die Segnungen, als Zugehörigkeit zum Himmelreich, erst dann vollends erfüllen, wenn der neue Himmel und die neue Erde sichtbar anbrechen (vgl. Offb 21,1-4).

Interessanterweise listet Lukas in seiner Zusammenfassung der Bergpredigt neben den Seligpreisungen (vgl. Lk 6,20-23) auch eine Reihe von „Weh-Rufen“ auf (V.24-26), die all jenen gelten, die Jesus bis zuletzt als ihren Herrn ablehnen. Dieser Kontrast zwischen den Segnungen und den Flüchen Gottes ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass wir Menschen keinen Anspruch auf Gottes Segen haben.

Wir werden ihn nicht automatisch erleben, unabhängig davon, wie wir leben. Nur wer wirklich auf Jesus als Retter vertraut und sich seiner Herrschaft unterstellt, wird von dem Fluch der Sünde und des Todes befreit und darf Gottes ewigen Segen erfahren. Gehorsam bringt Segen – nicht, weil wir uns die Erlösung verdient hätten, sondern weil wir durch unseren Gehorsam zeigen, dass wir auf den Einen vertrauen, der sein Volk in Ewigkeit segnen wird.


T.D. Alexander ist Dozent für Bibelkunde, Leiter des Postgraduiertenstudiums am Union Theological College in Belfast, Nordirland und Autor mehrerer Bücher.

© Ligonier Ministries @ Tabletalk Magazine. Die Übersetzung und Wiedergabe erfolgte mit freundlicher Genehmigung.

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