Wer sind die Gerechten in den Psalmen?
Manchmal überrascht einen die Sprache der Psalmen. Zum Beispiel, wenn von „den Gerechten“ die Rede ist – insbesondere, wenn man diese Aussagen im Licht der Rechtfertigung aus Glauben allein betrachtet. Einige Ausleger kamen sogar zu dem Schluss, dass die Psalmisten eine Art Selbstgerechtigkeit für sich beanspruchten, die der der Pharisäer im Neuen Testament sehr ähnlich sei. Zusammengefasst lässt sich über die Gerechten in den Psalmen folgendes sagen: Sie finden ihre Zuflucht in Gott und erhalten von ihm eine Gerechtigkeit, die ihr Leben zunehmend prägt. Sie erwarten auch das Kommen des einen Gerechten, in dessen Mund die Worte der Psalmisten ihre endgültige Erfüllung finden.
Gleich zu Beginn des Psalters begegnet uns „die Gemeinde der Gerechten“ und es wird uns versprochen, dass „der HERR den Weg der Gerechten kennt“ (Ps 1,5-6). Aber wer sind die Gerechten? Solange wir das nicht wissen, werden wir uns nicht mit den Psalmen anfreunden können, geschweige denn sie in unserer Andacht genießen und uns zu eigen machen. Sie begegnen uns immer wieder; vor allem im ersten Buch der Psalmen (1-41), und das oft im Kontrast zu den „Gottlosen“.
Es sind unzählige Verheißungen mit ihnen verbunden.
- Nicht nur, dass ihr Gott, mit dem sie im Bund stehen, ihren Weg kennt (darüber wacht) und ihre Schritte lenkt (Ps 1,6); er segnet und beschützt sie auch (Ps 5,12).
- Gott ist mit ihnen und jagt ihren Feinden Schrecken ein (Ps 14,5).
- Er umgibt die Gerechten mit unerschütterlicher Gnade (Ps 32,10-11).
- Seine Augen sind ständig auf die Gerechten gerichtet, und seine Ohren hören auf ihr Schreien (Ps 34,16.18).
- Er stützt sie und hält sie fest (Ps 37,17), und er schenkt ihnen die Verheißung, dass sie für immer in der neuen Schöpfung wohnen werden (Ps 37,29), in der unendlich herrlichen Gegenwart Gottes (Ps 92,12-13).
Diese Menschen, bei denen es sich um echte Männer und Frauen aus Fleisch und Blut handelte – es ist wichtig, das zu betonen! – werden mit Segen nur so überschüttet.
Doch es ist auch wichtig, zu wissen, um wen es sich bei diesen „Gerechten“ handelt, nicht zuletzt, damit wir – du und ich – sicher sein können, dass auch wir zu ihnen gehören, ihre Verheißungen erben und ihre Psalmen mitsingen können.1
Wer sind die Gerechten?
Zwei große und eng miteinander verbundene Probleme tauchen auf. Erstens wissen wir nicht, was wir davon halten sollen, wenn die Psalmisten behaupten, gerecht zu sein, und das manchmal mit sehr deutlichen Worten. Das Gebet „Richte mich, Herr, nach meiner Gerechtigkeit und nach der Lauterkeit, die auf mir ist“ (Ps 7,9) lässt in unseren Ohren alle Alarmglocken schellen. Wenn ich dies beten würde, was wäre dann? Was würde geschehen, wenn der HERR mich wirklich nach meiner Gerechtigkeit richten würde, wo er sie doch für sehr mangelhaft halten muss, oder etwa nicht? Darf ich es wirklich wagen, so zu beten?
Zweitens müssen wir den scheinbaren Widerspruch klären, dass die Psalmisten, die von sich behaupten, gerecht zu sein, gleichzeitig davon sprechen, dass kein Mensch vor Gott gerecht sei (siehe Ps 143,2). Wie kann beides wahr sein? Wie kann ich Rechtschaffenheit besitzen, und gleichzeitig keine Gerechtigkeit haben?
Es gibt eine einfache, oberflächlich betrachtet attraktive, aber doch zutiefst problematische „Lösung des Problems“. Sie besteht darin, dass man zu dem Schluss kommt, dass die Behauptungen in den Psalmen, gerecht zu sein, in Wahrheit Bekenntnisse der Selbstgerechtigkeit seien, die die spätere Selbstgerechtigkeit der Pharisäer, die Jesus so scharf verurteilte, vorwegnähmen (siehe z. B. Lk 18,9-14).2
Allerdings ist dieser Ansatz erstens sehr unbefriedigend, weil er voraussetzt, dass einige der Worte in den Psalmen fehlerhafte Ausdrücke rein menschlicher Überzeugungen seien. Viele vertreten diese Meinung, aber wir haben keinen Grund anzunehmen, dass die Psalmen eine Mischung aus Wahrheit und Irrtum sind – ganz im Gegensatz zu den Reden von Hiobs drei Tröstern, von denen Gott ausdrücklich sagt, dass sie sich mit ihren Aussagen irren (vgl. Hiob 42,7).
Dieser Ansatz ist aber auch deshalb unbefriedigend, weil er nicht dem Bild entspricht, das die Psalmen von den Gerechten zeichnen. Diesem Bild werden wir uns gleich widmen. Obwohl es durchaus legitim wäre, die neutestamentliche Sicht von Gerechtigkeit – insbesondere auf der Grundlage der Paulus-Texte – auf die Psalmen zu übertragen, wollen wir uns auf die Psalmen beschränken, um zu sehen, welches Bild von den Gerechten sie uns vorgeben. Ich werde das anhand von sieben Punkten tun, und dann werde ich darauf eingehen, wo die Verbindung zwischen den Gerechten in den Psalmen und den Gerechtfertigten unter dem Neuen Bund liegt.
Meine unten aufgeführten Punkte stützen sich auf eine sehr umfassende Untersuchung der Worte „Gerechter“ und „gerecht“, die in mehr als 120 Versen in etwa 60 verschiedenen Psalmen vorkommen. Eine noch umfassendere Studie würde jeden dieser Verse in seinem Kontext betrachten.
Wer sind diese Menschen, die sich als „Gerechte“ bezeichnen? Wie sehen sie aus – natürlich nicht in Bezug auf ihre äußere Erscheinung, sondern in ihrem Herzen, in ihrem Geist? Was treibt sie morgens aus dem Bett? Was sind ihre Sehnsüchte, ihre Freuden, ihre Hoffnungen und ihre Ängste?
Wenn wir uns allein mit der Wortbedeutung von „Gerechtigkeit“, bzw. „Rechtschaffenheit“3 beschäftigen, sollten wir bedenken, dass dabei leicht wichtige Wesensbeschreibungen übersehen werden können, die sich erst durch den Kontext ergeben; wenn diese Menschen z. B. als „aufrichtig“ oder „von Herzen aufrichtig“ bezeichnet werden, und dann gemeint ist, dass sie ein moralisch anständiges Leben führen (siehe z. B. Ps 11,7; 32,11; 33,1; 36,11; 37,37; 94,15; 97,11); oder wenn davon die Rede ist, dass sie als „untadelig“ gelten, im Sinne von integer, also das Gegenteil von Heuchelei (wie z. B. in Ps 15,2; 18,25; 37,18+37; 64,5; 101,2+6; 119,1); einmal werden sie auch als „die Lebenden“ bezeichnet (vgl. Ps 69,28 – je nach Übersetzung ist vom „Buch des Lebens“ oder „Buch der Lebenden“ die Rede), da sie vor Gott leben.
Es handelt sich bei den Gerechten um ein und dasselbe Volk, dessen Gebete und Lobpreis in den Psalmen zum Ausdruck kommen und dessen Umrisse sich dort abzeichnen.
1. Ihre Freude
Im Mittelpunkt der Frage nach den Gerechten steht ihr Herz. An was oder an wem haben sie ihre größte Freude? Waren sie so etwas wie die frühen Pharisäer? Wenn ja, dann hätte ihre Antwort in etwa so gelautet: „Ich freue mich vor allem an mir selbst! Ich danke Gott, dass ich so bin, wie ich bin. Ich bin zufrieden mit mir und möchte, dass auch andere mit mir zufrieden sind und mich loben.“
Die Tatsache, dass sich das Lob und die Freude der Gerechten so absolut auf ihren Gott, als den HERRN des Bundes, konzentriert, ist sicherlich der deutlichste Hinweis darauf, dass sie diesem HERRN aus reiner Gnade angehören. Wiederholt wird uns gesagt, dass ihre Freude und ihr Jubel im HERRN begründet sind (z. B. Ps 33,1; 64,11; 68,4; 97,12). Etwas salopp formuliert, ist ihr Bundesgott wie eine Sprungfeder unter ihren Schuhen, die sie morgens aus dem Bett holt, jeden ihrer Schritte beflügelt und ihnen eine Freude und Kraft verleiht, die aus tiefstem Herzen kommt.
2. Ihre Sehnsucht
Eng verbunden mit der Freude der Gerechten ist die Frage nach ihren Wünschen, ihren Hoffnungen, ihren Sehnsüchten und ihren Zielen. Worauf hoffen sie? Die Antwort, die sich notwendigerweise, logischerweise und auch erfahrungsgemäß aus ihrer oben genannten Freude ergibt, ist, dass sie das Angesicht ihres Gottes, ihres Bundesherrn, sehen wollen. Nichts ist ihnen so kostbar wie Gottes „Angesicht“ – die persönliche, segensreiche Gegenwart des HERRN, wenn er sich ihnen sowohl in diesem Leben (wenn auch nur begrenzt), doch vor allem in der zukünftigen Herrlichkeit (in unbegrenztem Maß) zuwendet.
Der Wert dieser Verheißung kann nicht überschätzt werden (siehe Ps 11,7). Sie aber nicht zu haben, ist wiederum die schrecklichste Erfahrung auf Erden (siehe Ps 13,1-2; 88,15). Deshalb suchen sie nach ihm (Ps 24,6; 27,8-9), und deshalb dürsten sie nach ihm (Ps 42,2-3; 143,6-7). Sie sind weit davon entfernt, mit sich selbst zufrieden zu sein; stattdessen ist ihr Verlangen leidenschaftlich und intensiv nach oben, zum HERRN, gerichtet.
3. Ihre Reue
Der dritte Wesenszug der Gerechten ist von einer ganz anderen Art. Er betrifft ihre Bußfertigkeit. Weit davon entfernt, vor Selbstbewusstsein zu strotzen, weiß der wahrhaft Gerechte zutiefst um seine eigene Sündhaftigkeit und die dringende Notwendigkeit, Buße zu tun. Am deutlichsten sehen wir das in Psalm 32, wo David feierlich davon erzählt, wie glücklich er über das Bekenntnis seiner Sünden, die Buße und die göttliche Vergebung ist. Am Ende des Psalms ermahnt er alle, die diesen Weg der Umkehr gehen: „Freut euch am HERRN und jauchzt, ihr Gerechten“ (Ps 32,11a).
Diese „Gemeinde der Gerechten“ (Ps 1,5) besteht aus Männern und Frauen, die gelernt haben, dass Bekenntnis und Reue notwendige Segnungen sind – die dies aber nicht nur einmal, sondern immer weiter lernen. Hier herrscht eine deutliche Parallele zu dem Zöllner aus Jesu Gleichnis, und nicht zu dem Pharisäer (vgl. Lk 18,9-14).
Diese geistliche Haltung entdecken wir noch einmal am Anfang von Psalm 143, wo David zeigt, dass diejenigen, die keine eigene Gerechtigkeit haben (V. 2), Gott in seiner Treue um Erbarmen bitten können (V. 1), damit Gott in seiner Gerechtigkeit antwortet, und David (und allen, die wie David Gott darum bitten) seine Gnade schenkt und ihn auf seinem Weg führt (V. 8).
4. Ihre Zuflucht
Der vierte Aspekt ist der, der vermutlich am deutlichsten auf die Notwendigkeit und das Vorhandensein des Glaubens hinweist. Hier wird die Frage beantwortet: Wohin, bzw. zu wem fliehen die Gerechten, wenn sie bedrängt oder bedroht werden?
Immer wieder können wir hören und sehen, wie die Gerechten zu dem HERRN des Bundes fliehen, weil sie wissen, dass er ihre einzige Zuflucht, ihr einziger sicherer Ort ist, angesichts der Angriffe ihrer Feinde, aber auch angesichts des gerechten Gerichts Gottes.
Sie schreien zu ihm nach Hilfe in der Not, und er rettet sie (vgl. Ps 34,16.18.20.22). Sie vertrauen ihm ihren Weg an, hoffen auf ihn und vertrauen darauf, dass er die Gerechtigkeit (oder Rechtfertigung), die er ihnen schenken wird, auch sichtbar werden lässt (Ps 37,5-6). Sie warten auf ihn und auf sein Eingreifen (Ps 37,7), denn „er ist ihre Bergfestung zur Zeit der Not“ (Ps 37,39). Sie werfen ihre Last auf ihn und vertrauen darauf, dass „er für ewig nicht zulassen [wird], dass der Gerechte wankt“ (Ps 55,22). Immer wieder suchen sie Zuflucht bei ihm (z. B. Ps 64,10). Einer der Psalmen, in denen dies am stärksten zum Ausdruck kommt, ist Psalm 71 (siehe V. 2-3, 15-16, 19, 24).
5. Ihre Gewissheit und ihr Bundeshaupt
Kommen wir nun zu den Gelegenheiten, bei denen die Psalmisten von ihrer eigenen Gerechtigkeit sprechen (wie z. B. Ps 4,1; 7,9; 18,21-25). Was meinen sie damit? Dieser Punkt ist sicherlich der wichtigste unserer Betrachtung, über den wir sehr sorgfältig nachdenken müssen. Zu Beginn müssen aber zwei wichtige Beobachtungen gemacht werden.
Erstens wird in den Psalmen mehr als deutlich, dass die Quelle aller Gerechtigkeit allein in Gott zu finden ist, denn er allein ist in sich selbst gerecht (z. B. Ps 11,7); sein Gesetz ist gerecht (Ps 19,10); er bewirkt Gerechtigkeit als ein Ausdruck seiner Bundestreue und Liebe (vgl. Ps 22,32; 36,7; 48,11; 103,6+17), und er wird die Welt in Gerechtigkeit richten (Ps 9,9; 96,13; 98,9). Kein Mensch besitzt von Natur aus wahre Gerechtigkeit, sie ist allein Gott vorbehalten.
Zweitens nimmt der König in der Nachkommenschaft Davids eine einzigartige Stellung in den Psalmen ein. Beim Studium der Psalmen fällt auf, wie oft es ein Zusammenspiel zwischen einer einzelnen Hauptperson (meist dem König) und einer Vielzahl oder Gemeinde von „Gerechten“ gibt. Weil Gott der HERR den König rettet, wirkt sich Gott für das Volk des Königs zum Segen aus (z. B. Psalm 3,8-9).
David nennt den HERRN den „Gott meiner Gerechtigkeit“ (Ps 4,1), was offenbar ausdrückt, dass von Gott Gerechtigkeit und die Hoffnung auf Rechtfertigung ausgehen. Sowohl in Psalm 17 als auch in Psalm 18 bekennt sich der König zu einer Gerechtigkeit, auf die sich seine Hoffnung gründet.
Im Drama von Psalm 18 wird er aufgrund dieser Gerechtigkeit gerettet (siehe V. 20-24). Für David selbst stellt dies ein Problem dar, denn wir fragen uns in Bezug auf Batseba und Urija, den Hethiter (vgl. 2Sam 11): „Wie kann derselbe David, der auf diese Weise gesündigt hat (oder später sündigen würde), eine solche Gerechtigkeit für sich beanspruchen?“
Die Antwort, die in den Psalmen nur angedeutet wird, im Neuen Testament aber in ihrem vollem Glanz erstrahlt, lautet, dass David seine Gerechtigkeit aufgrund der makellosen Gerechtigkeit des „viel größeren Davidsohns“ zuteil wird (vgl. Röm 5,12-21). Der HERR führt in seiner Gerechtigkeit David und alle kleinen vorausschauenden „Messiasse“ in der Linie Davids „auf Pfaden der Gerechtigkeit um seines Namens willen“ (Ps 23,3), weil es einen wahren Messias geben wird, der diese Pfade der Gerechtigkeit beschreiten wird, ohne in irgendeinem Punkt zu versagen oder zu straucheln. Und doch gibt es ein sichtbares Maß an tatsächlich gelebter Gerechtigkeit im Leben eines Gläubigen unter dem Alten Bund, der allein aus Gnade durch den Glauben gerechtfertigt ist (siehe Punkt 6).
Der Zusammenhang zwischen der Gerechtigkeit des HERRN, als Haupt des Bundes, und der Gerechtigkeit des Königs, als Teilhaber des Bundes, wird in Psalm 35,24-28 deutlich. In Vers 24 bittet der König David Gott, ihn „nach deiner (Gottes) Gerechtigkeit“ (d. h. entsprechend der Treue zu seinen und gemäß der Erfüllung seiner Bundesverheißungen) zu rechtfertigen. In Vers 27 wird er auf die Versammlung, bzw. Gemeinde des königlichen Volkes zu sprechen gekommen: „Alle aber, die mir [d. h. dem König] wünschen, dass mir Gerechtigkeit zuteil wird, mögen jubeln und sich freuen.“ Hier geht es um eine Gerechtigkeit, die dem König gegeben wurde und die der König im Namen seines Volkes besitzt.
Seine Anhänger werden sich freuen, weil ihr König gerecht ist, was sich für sie als Segen erweist. Und dann, in Vers 28, spricht der König selbst wieder von Gottes Gerechtigkeit: „Und ich will erzählen, wie gerecht du bist, den ganzen Tag will ich dich loben.“
In Psalm 72 sehen wir deutlich einen Wechsel von der Gerechtigkeit des Königs zur Gerechtigkeit, die das Volk empfängt. In den Versen 1-3 wird Gott gebeten, seinem König Gerechtigkeit zu schenken. Wenn dies geschieht, wird das Volk des Königs (letztlich alle, die „in Christus“ sind) „gerecht“ genannt werden und unter der Herrschaft ihres Königs „sprossen“ (V. 7).
Vor dem Hintergrund des Neuen Testaments fällt es uns leichter, diese starke Betonung der Gerechtigkeit des König als Hinweis auf die Gerechtigkeit Christi zu verstehen. Wenn David (wie Abraham oder jeder andere Heilige des Alten Testaments) von seiner Gerechtigkeit sprach, meinte er in erster Linie eine Gerechtigkeit, die ihm von Gott gegeben war. Wenn die Gläubigen des Alten Bundes, die weder Patriarchen noch Könige nach der Verheißung und Linie Davids waren, auf diese Weise sprachen, war ihre Gerechtigkeit letztlich genauso im König, dem Haupt ihres Bundes, zu finden. Diese föderale Vorrangstellung des Königs erfüllte sich ganz eindeutig, als Christus als Haupt des Neuen Bundes für sein Volk als stellvertretendes Sühnopfer ein gerechtes Leben führte und stellvertretend starb.
6. Ihr Leben
Eine Darstellung der Gerechten in den Psalmen wäre allerdings sehr lückenhaft, wenn man nicht auch ihr sichtbares Leben erwähnen würde. Ich habe diesen Punkt absichtlich bis zum Schluss zurückgehalten, weil ihr Lebenswandel das Ergebnis und nicht die Ursache ihrer Berufung als Gläubige ist. Es wäre deshalb ein Fehler, wenn wir mit einer Lebensbetrachtung starten würden. Und doch ist ihr Leben untrennbar mit ihrer Identität verbunden – und auch eng mit ihrem Segen und ihrer Sicherheit.
Der HERR des Bundes gibt seinem König und seinem Volk nicht einfach den Status von Gerechten, damit sie ihn genießen können, während sie weiterhin ein böses Leben führen. Immerhin ist „der HERR gerecht und liebt gerechtes Handeln“ (Ps 11,7; vgl. Ps 33,5). Es ist ganz klar (z. B. in Ps 15 und 24), dass ein Leben, das von der Liebe zur Gerechtigkeit geprägt ist, ein notwendiges Kennzeichen des echten Messias und auch seines Volkes ist. Jesus ist die Erfüllung von Psalm 15 und Psalm 24, wie auch aller anderen Beschreibungen der menschlichen Gerechtigkeit in den Psalmen.
Manchmal bezieht sich die Gerechtigkeit, die ein Psalmist einfordert, aber auch auf Unschuld gegenüber einer ganz konkret gegen ihn vorgebrachten Anschuldigung (z. B. Ps 7,8). Hier finden wir nicht selten Umstände vor, unter denen Gott von Psalmisten um Rechtfertigung angefleht wird. Oft geht diese ganz konkrete partielle Gerechtigkeit jedoch in eine umfassendere Gerechtigkeit für das gesamte Leben über.
Diejenigen, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Bundesvolk Gottes unter dem König, ihrem Bundeshaupt, wahrhaftig gerecht sind, weil sie auf die (in Christus erfüllten) Verheißungen des Bundes vertrauen, werden ein aufrechtes, untadeliges und gerechtes Leben führen. Dieser Aspekt wird im Buch der Psalmen vermutlich in Psalm 111 und Psalm 112 am deutlichsten zum Ausdruck gebracht. Psalm 111 preist die Gerechtigkeit Gottes, und Psalm 112 verkündet (mit Nachdruck) Segen für diejenigen, deren Lebenswandel ebenfalls von Großzügigkeit und Barmherzigkeit geprägt ist (Ps 37,21). Solch ein Mensch handelt und redet in einer Weise, auf die das innerste Wesen ihres gläubigen Herzens sichtbar wird (Ps 37,30). Paulus wird dies später als „Glaubensgehorsam“ bezeichnen (Röm 1,5; 16,26), und der Jakobusbrief wird es ausführlich erläutern.
7. Ihre Feinde
Der letzte Punkt, die letzte Facette der Gerechten, unterscheidet sich völlig von den anderen. Die Feinde der Gerechten werfen durch ihr gegensätzliches Wesen und ihre völlig entgegengesetzten Wünsche und Ziele ein paradoxes Licht auf das Wesen der Gerechten. Hier mal ein kurzes Porträt derjenigen, die nicht als Gerecht zu bezeichnen sind: Am häufigsten werden sie als „die Gottlosen“ (oder auch als „Übeltäter“) bezeichnet, und ich möchte nur zwei ganz spezielle Merkmale nennen, die häufig in den Psalmen für sie verwendet werden.
Das erste ist ihre beständige und unerbittliche Feindseligkeit gegenüber den Gerechten (z. B. Ps 94,21). Den Anfang dafür finden wir in Kains ungläubigem Hass auf Abel, den Gerechten, der durch seinen Glauben vor Gott gerecht war. Diese Feindseligkeit ist ein ständiges Thema in den Psalmen 37; 9; 10 und 11.
Das zweite Merkmal ist, dass die Gottlosen – im Gegensatz zu denen, die durch ihren Glauben gerecht sind – natürlich auf sich selbst und ihre eigenen Fähigkeiten vertrauen. Deutliche Beispiele dafür finden sich bei Doëg, dem Edomiter (vgl. Ps 52,1-9). Besonders in Vers 9 will er Gott nicht zu seiner Zuflucht machen, sondern vertraut auf seinen eigenen Reichtum und seine eigenen Mittel.
Nichts ist einem verstockten Gottlosen, der auf sich selbst vertraut, mehr zuwider als die leibliche Gegenwart des einen Gerechten, der seinem Vater vertraut, und das Volk des Gerechten, das seinen Glauben teilt.
Die Psalmen und die Gerechtigkeit des Neuen Bundes
Wenn wir nun abschließend fragen: „Sind die Gerechten in den Psalmen dieselben wie diejenigen, die unter dem Neuen Bund allein aus Gnade durch den Glauben gerechtfertigt sind?“, dann muss die Antwort „Ja“ und „Nein“ lauten.
In erster Linie lautet die Antwort „Ja“. Wir, als Gläubige des Neuen Bundes, die wir zu Christus gehören, teilen gemeinsam mit ihnen die Freude an Gott, das Verlangen, Gottes Angesicht zu sehen, die Bußfertigkeit, gemeinsam mit ihnen fliehen wir zu Gott, um bei ihm Zuflucht zu finden – sowohl vor Schwierigkeiten als auch vor dem kommenden Gericht –, mit ihnen teilen wir die Gewissheit, dass uns aufgrund unseres Bundeshauptes vergeben ist, dass unser Glaube uns auf den Pfad der Gerechtigkeit und des Lebens führen wird, und wir teilen mit ihnen die Tatsache, dass es in unserer Welt, ebenso wie in ihrer Welt damals, Feindseligkeiten gegenüber Christus und seinem Volk gibt (vgl. Joh 15,18-16,4).
Allerdings gibt es einen bedeutenden Unterschied zwischen diesen gerechten Gläubigen des Alten Bundes und den Gläubigen an Christus unter dem Neuen Bund: Unter dem Neuen Bund genießen wir eine tiefere Gewissheit und den Reichtum eines endgültig gereinigten Gewissens. Und das ist ein Segen, den die Gläubigen unter dem Alten Bund nur in Vorahnung und nur schattenhaft kannten (vgl. Hebr 8-10).4
Wenn wir also in den Psalmen auf die Gerechten stoßen, was in etwa 40 Prozent der Psalmen der Fall ist, erkennen wir in ihnen Menschen, die auf den kommenden Christus vertraut haben. Indem sie an die Bundesverheißungen glaubten und im Glaubensgehorsam lebten, glaubten sie blindlings an den Christus, der diese Verheißungen erfüllen würde. Sie kannten zwar weder die Fülle dieses herrlichen Christus noch die Größe der Verheißungen des Evangeliums so klar wie wir, aber abgesehen davon erkennen wir in ihnen Menschen, die uns heute in Christus sehr ähnlich sind. Wenn uns dies bewusst ist, verändert es die Art und Weise, wie wir die Psalmen lesen.
Christopher Ash ist freier Autor am Tyndale House in Cambridge, und ehemaliger Pastor in London. Er hat drei Bücher über die Psalmen verfasst. Außerdem schreibt er gerade an einem dreibändigen Kommentar zu den Psalmen, in dem er untersucht, wie wir sie uns als Kirche Christi aneignen können.
Fußnoten
- Weiterführende Diskussionen zu dieser Frage finden sich in Hans-Joachim Kraus: „Theologie der Psalmen“, Neukirchen: Vandenhoek & Ruprecht (1979), S. 154-162; Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben; Das Gebetbuch der Bibel, ed. Gerhard Ludwig Müller und Albrecht Schönherr, Sonderausgabe., Bd. 5, Dietrich Bonhoeffer Werke, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus (2015), S. 126–128; Geoffrey Grogans: „Prayer, Praise and Prophecy“, Fearn, UK: Christian Focus (2001), S. 122-126. ↩︎
- C.S. Lewis verweist fälschlicherweise auf „die Selbstgerechtigkeit in vielen Psalmen“ (vgl. Lewis: „Gespräch mit Gott: Gedanken zu den Psalmen“, Einsiedeln: Benzinger; [1999], S. 34.) ↩︎
- Die drei wichtigsten hebräischen Worte sind das Substantiv „Gerechter“, das sich auf die Person bezieht (tsadiq), das Adjektiv „Gerechtigkeit“ (tsedaqah) und das Abstraktum „Gerechtigkeit“ (tsedeq). ↩︎
- Vgl. Christopher Ash: „Discovering the Joy of a Clear Conscience“, Philipsburg NJ: P&R (2014), S. 128–148. ↩︎