Auge um Auge, Zahn um Zahn
Vor einigen Jahren hatte ich eine interessante Begegnung im Fitnessstudio. An besagtem Tag war nicht viel los, und so sprach mich ein Mann an und bat mich, ihm beim Gewichtheben zu assistieren. Er war nicht sonderlich groß, sah aber aus wie jemand, dem man nicht im Dunkeln begegnen will: kahl-rasierter Schädel, grauer Schnauzbart und provokative Tattoos auf den muskulösen Armen. Er entpuppte sich allerdings als umgänglicher Kerl, sodass ich ihn nach der Bedeutung eines seiner Tattoos fragte. Denn mir war nicht entgangen, dass auf seinem Arm stand: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Er erklärte mir: „Das bedeutet so viel wie: ‚Wenn du mir was aufs Maul haust, kriegst du das von mir zurück.'“
Er war zwar freundlich, aber wir kannten uns nicht so gut, dass ich es wagte, ihn über die eigentliche Bedeutung dieses recht bekannten Bibelwortes aufzuklären. Tatsächlich ist dieses „Auge um Auge“-Prinzip eines der alttestamentlichen Bibelworte, die am häufigsten missverstanden werden. Vermutlich ist dies auch dem Umstand geschuldet, dass Jesus in der Bergpredigt dieses alttestamentliche Prinzip aufzuheben scheint. Denn in Matthäus 5,38-39 lesen wir:
„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Widersteht nicht dem Bösen, sondern wenn jemand dich auf deine rechte Backe schlagen wird, dem biete auch die andere dar.„
Wir haben wir also dieses Bibelwort zu verstehen?
Der alttestamentliche Kontext
Das „Auge um Auge“-Prinzip finden wir insgesamt dreimal im Alten Testament – genauer gesagt im Gesetz des Mose (vgl. 2Mo 21,24; 3Mo 24,20 und 5Mo 19,21). Die erste Erwähnung liest sich im Zusammenhang so:
„Wenn Männer sich raufen und dabei eine schwangere stoßen, sodass ihr die Leibesfrucht abgeht, aber kein weiterer Schaden entsteht, so muss dem Schuldigen eine Geldbuße auferlegt werden, je nachdem, wie viel ihm der Eheherr der Frau auferlegt, und er soll nach dem Ermessen von Schiedsrichtern geben. Falls aber ein weiterer Schaden entsteht, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme.“
Wichtig festzuhalten ist zunächst einmal, dass dieses Prinzip im Rahmen einer Gerichtsverhandlung zur Anwendung kommt. Unser Bibeltext ist Teil der Gesetzgebung, die unmittelbar auf die Zehn Gebote folgen (vgl. 2Mo 21,1). Dann spricht der Text von Schiedsrichtern, die den jeweiligen Fall verhandeln sollen.
Bei der zweiten Erwähnung dieser Worte, in 3. Mose 24,20, handelt es sich ebenfalls um eine Gerichtsszene, bei der Gott um eine richterliche Entscheidung gebeten wird. In diesem Zusammenhang wiederholt Gott dieses Prinzip:
„Wenn jemand seinem Nächsten einen Schaden zufügt; wie er getan hat, so soll ihm getan werden: Bruch um Bruch, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie er einem Menschen einen Schaden zugefügt, so soll ihm zugefügt werden“ (3Mo 24,19-20).
Noch deutlicher wird dieser Sachverhalt in 5. Mose 19. Hier wird zunächst davor gewarnt, dass man jemanden nicht aufgrund eines einzigen Zeugen verurteilen darf, sondern dass es mindestens zwei Zeugen für eine Verurteilung braucht (vgl. 5Mo 19,15). Etwas weiter heißt es dann: „Und die Richter sollen die Sache genau untersuchen“ (V.18). Erst am Ende des Abschnittes lesen wir abschließend: „Und du sollst nicht schonen: Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß!“ (V.21). Das erste, was wir hier unbedingt beachten müssen ist, dass dieses „Auge um Auge“-Prinzip keine Selbstjustiz befürwortet oder gar gestattet.
Eher im Gegenteil. Diese göttliche Anordnung finden wir nur im Kontext eines Gerichtes, das die Aufgabe hatte, über die Streitigkeiten von Zivilpersonen zu urteilen und gegebenenfalls Strafen zu verhängen. Mein Bekannter im Fitnessstudio legte dieses Prinzip demnach falsch aus, wenn er es als Rechtfertigung für persönliche Rache ansah.
Doch wie haben wir dieses Prinzip zu verstehen und was hat Jesus damit gemeint, wenn Er in der Bergpredigt scheinbar eine Alternative dazu präsentiert?
Die alttestamentliche Bedeutung
Selbst wenn wir den Gerichtskontext berücksichtigen klingt dieses „Auge um Auge“-Prinzip für uns immer noch ziemlich brutal. Womöglich denken wir an Strafen wie Verstümmelung, wobei dem Verurteilten die Hand abgeschlagen wurde (Hand um Hand). Aufmerksamen Bibellesern wird jedoch vielleicht aufgefallen sein, dass der Wortlaut in den drei oben erwähnten Bibeltexten nicht immer exakt gleich ist (so lesen wir beispielsweise nur in 2. Mose von „Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme„). Dieser Umstand legt nahe, dass es hier weniger um konkrete Strafen, sondern eher um das Strafmaß an sich geht. Viele Ausleger machen darauf aufmerksam, dass der eigentliche Sinn hinter dem „Auge um Auge“-Prinzip der ist, das Rache eingegrenzt anstatt gefördert wird. Wichtig hierbei ist die ergänzende Formulierung aus 3. Mose 24,20: „Wenn jemand seinem Nächsten einen Schaden zufügt; wie er getan hat, so soll ihm getan werden.“ Demnach sollte sichergestellt werden, dass das Strafmaß im Verhältnis zur Schuld steht.
Wir wissen aus eigener Erfahrung, wie schnell wir bereit sind, es anderen heimzuzahlen, wenn uns Unrecht getan wurde. Im Zorn sind wir oftmals unbeherrscht und neigen dazu, die Gerechtigkeit in die eigene Hand zu nehmen. Und genau aus diesem Grund gab Gott den Richtern Israels dieses „Auge um Auge“-Prinzip mit auf den Weg, damit der persönlichen Rache ein Riegel vorgeschoben wurde.
Doch nun stellt sich die Frage, ob Jesus dieses Prinzip in der Bergpredigt aufhob, als er sagte:
„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Ich aber sage euch: Widersteht nicht dem Bösen, sondern, wenn jemand dich auf deine rechte Backe schlagen wird, dem biete auch die anderer dar“ (Mt 5,38-39).
Die Bedeutung bei Jesus
Wie bei allen kniffligen Fragen bezüglich der Bedeutung von Bibeltexten müssen wir auch hier den Kontext genau untersuchen. Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass Jesus vor seinen sogenannten Anti-Thesen seinen Zuhörern versicherte: „Meint nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen“ (Mt 5,17). Mit anderen Worten: Jesus würde nicht das alttestamentliche Gesetz für ungültig erklären, sondern vielmehr den eigentlichen, von Gott beabsichtigten Sinn dahinter aufzeigen.
Als nächstes müssen wir uns vor Augen halten, zu wem Jesus hier spricht. Matthäus 5,1 sagt es uns:
„Als er aber die Volksmengen sah, stieg er auf den Berg; und als er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach.“
Jesus sprach hier zu seinen Jüngern, bzw. zu den Menschen, die das Anliegen hatten, Ihm nachzufolgen. Dies wird insbesondere durch die anschließenden Seligpreisungen verdeutlicht. Jesus sprach hier nicht pauschal zu allen Menschen, sondern lehrte seine Nachfolger, was ein Leben in der Jüngerschaft praktisch bedeutet.
Bezogen auf unsere Bibelstelle heißt das nicht, dass Jesus das „Auge um Auge“-Prinzip generell abschaffen will, sondern dass Er von seinen Jüngern einen Lebensstil fordert, der sie als Kinder Gottes erscheinen lässt (vgl. Mt 5,48). Vielleicht wird das anhand der vorherigen Anti-These des Ehebruchs etwas deutlicher.
In den Zehn Geboten steht: Du sollst nicht ehebrechen! Jetzt waren die Menschen der Meinung dieses Gesetz gehalten zu haben, wenn sie niemals tatsächlich fremdgegangen waren. Jesus verdeutlichte jedoch, dass der Ehebruch bereits im Herzen beginnt und schon der Wunsch nach einem fremden Partner als Übertretung des Gesetzes gilt (vgl. Mt 5,27-28). Sich äußerlich an das Gesetz halten ist keine große Kunst – das kriegen auch Menschen hin, die Gott nicht kennen; doch mit ganzem Herzen dem Gesetz zuzustimmen und es gerne zur Ehre Gottes und in der Kraft Gottes zu halten, ist etwas völlig anderes. Hier zeigt sich, wer ein wahres Kind Gottes ist.
In Bezug auf das Vergelten zeigt Jesus seinen Jüngern auf, dass es nichts Besonderes ist, wenn man seine Freunde liebt, seinen Gegnern jedoch feindlich gesinnt ist (vgl. Mt 5,46-47). Auf sein Recht zu bestehen ist einfach. Auf persönliche Rechte zugunsten der Feindesliebe jedoch zu verzichten ist eine andere Sache. Doch genau das scheint Jesus hier zu fordern. In einer in Sünde gefallenen Welt braucht es klare Gesetze und Regeln. Gesetze dienen dazu, das Böse einzudämmen und die zivile Ordnung aufrecht zu erhalten.
Jesus fordert hier nicht die Abschaffung der Justiz. Was Er jedoch von seinen Nachfolgern fordert, ist, dass sie radikal anders leben als die Menschen, die Gott nicht kennen. Und ein Aspekt dieser Andersartigkeit zeigt sich eben darin, dass man auf sein Recht auf Vergeltung freiwillig verzichtet.
Paulus lehrt dies ebenfalls in 1. Korinther 6, wo er Rechtsstreitigkeiten unter Gemeindemitgliedern anspricht:
„Also gar kein Weiser ist unter euch, der zwischen einem Bruder und einem Bruder entscheiden kann? Sondern es streitet Bruder mit Bruder, und das vor Ungläubigen! Es ist nun schon überhaupt ein Fehler an euch, dass ihr Rechtshändel miteinander habt. Warum lasst ihr euch nicht lieber unrecht tun? Warum lasst ihr euch nicht lieber übervorteilen?“ (1Kor 6,5-7).
Paulus appelliert hier an Christen, Streitigkeiten beizulegen anstatt auf Biegen und Brechen auf sein Recht zu beharren.
Das bedeutet nicht, dass man sich alles gefallen lassen muss. Paulus und Jesus selbst haben nicht nur „die andere Wange hingehalten“ (vgl. Apg 22,23-29; Joh 18,23). Aber es bedeutet, dass man im Schadensfall in sich geht und sich die Frage stellt: Würde es Gott verherrlichen und ein Zeugnis für seine Barmherzigkeit, die er mir erwiesen hat, sein, wenn ich auf mein gutes Recht verzichte und stattdessen Gnade walten lasse?