Seid barmherzig

Seid barmherzig!

Es ist ein Bild, das um die Welt ging. Ein Mann in einem medizinischen Schutzanzug hält einen alten, an COVID-19 erkrankten Mann im Arm und spendet ihm Nähe und Trost.  Diese Szene geht unter die Haut.  Sie verkörpert gleichermaßen menschliches Elend und menschliche Nähe. Sie ist mutmachend, denn der Leidende erhält Zuwendung. Gleichzeitig ist sie auch erschreckend und ernüchternd. Denn der Trostspender steckt in einer medizinischen Schutzausrüstung, die ihn total von dem anderen schützt.

Natürlich können wir nur darüber spekulieren, was den Mann im Schutzanzug zu dieser mutmachende Geste bewegt hat. Vielleicht war der ältere Mann sein Vater oder ein alter Bekannter. Oder die beiden haben sich gerade erst kennengelernt. Im Grunde spielt es auch keine Rolle, denn der Mann hat das Richtige getan, indem er sich seinem Nächsten zuwandte. 

Seid barmherzig – Ein Gleichnis

Jesus Christus erzählte einmal eine erstaunliche Geschichte. Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein jüdischer Mann fiel auf der gefährlichen Reise von Jerusalem nach Jericho unter die Räuber und wurde brutal ausgeraubt und zusammengeschlagen. Dann wurde er einfach sich selbst überlassen. Ein vorübergehender Priester und ein Levit ließen ihn links liegen und halfen dem Schwerverletzten nicht. Dann jedoch kam ein Samariter vorbei. In Lk 10,33-34 heißt es: „Aber ein Samariter, der auf der Reise war, kam zu ihm hin; und als er ihn sah, drehte sich im der Magen um und er hatte großes Mitleid mit ihm; und er trat hinzu und verband seine Wunden und goss Öl und Wein darauf; und er setzte ihn auf sein eigenes Tier und führte ihn in eine Herberge und trug Sorge für ihn.“ Jesus Christus erzählte diese Geschichte mit der für seine damaligen Zuhörer überraschende Pointe, dass ein Samariter und nicht Priester oder Levit, dem armen Mann half. Dies tat er, um deutlich zu machen, wie die von Gott von jedem Menschen geforderte Nächstenliebe aussieht. Auf Jesu Frage hin, wer nun die geforderte Nächstenliebe geübt hat, lautete die Antwort desjenigen, der Jesus den unmittelbaren Anlass für das Gleichnis gegeben hatte: „Derjenige der die Barmherzigkeit an ihm übte.“ Selbst jetzt brachte dieser Jude das Wort Samariter nicht über die Lippen. Aber natürlich hatte er voll und ganz recht. Weil nun derjenige, der Barmherzigkeit übte, ein Samariter war, ist dieses Gleichnis auch als das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter bekannt.

Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter findet sich nur im Lukasevangelium und es veranschaulicht sehr schön, wie biblische Nächstenliebe und Barmherzigkeit ganz konkret aussehen.  Der Samariter erbarmte sich eines jüdischen Mannes, der eigentlich von ihm, einem Samariter, keine Hilfe erwarten konnte. Wer das Lukasevangelium studiert, wird schnell merken, dass Jesus Christus im wahrsten Sinne des Wortes wie kein anderer grenzenlose und grenzüberschreitende Barmherzigkeit verkörpert.

In einer der großartigsten Predigt der Menschheitsgeschichte, der sogenannten „Feldpredigt“ (Lk 6,17-49), die in mancherlei Weise der Bergpredigt ähnelt, finden wir in der Mitte von Jesu Christi Predigt eine der tiefgründigsten Ausführungen über die Liebe. Möchte man diese Predigt kurz und prägnant zusammenfassen, so kann man davon sprechen, dass Jesus Christus uns – seine Jünger – dazu aufruft, jeden Menschen, und das ganz bewusst inklusive verstanden, zu lieben. Dementsprechend heißt es in Vers 36.   

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“  

Diese Verse bringen kurz und prägnant Jesu Lehre auf den Punkt. Doch was hat Jesus Christus dabei ganz genau vor Augen? Und was meint er damit? Wie sollten wir dies verstehen? Genau diesen Fragen wollen wir im Folgenden nachgehen.

Die Bedeutung von „barmherzig“

Beginnen wir auf der sprachlichen Ebene. Das griechische Wort οἰκτιρμός was an dieser Stelle mit dem deutschen Wort „barmherzig“ übersetzt wird, kann folgendermaßen wiedergeben werden: „Emotional bewegt sein durch das Leid und Elend des Anderen“.

Das griechische Wort hat interessanterweise einen Bezug zu den Eingeweiden, also der Gegend unseres Körpers, in dem sich bestimmte Gefühle manchmal geradezu körperlich manifestieren. Genau dies wird gerade im Alten Testament immer wieder aufgegriffen. Im Deutschen sprechen wir ja auch davon, dass sich einem der Magen umdreht.

Jesus Christus fordert also seine Jünger dazu auf, dass sie sich so intensiv auf das Leid ihrer Mitmenschen einlassen sollen, dass sich ihnen sprichwörtlich der Magen umdreht und sie aus diesem tiefen Mitgefühl heraus dann in konkreter Nächstenliebe tätig werden. Auf den Punkt gebracht fordert Jesus Christus alle seine Jünger dazu auf, sich wie der Vater vom Leid der anderen ganz wortwörtlich in Bewegung setzen zu lassen. 

Interessanterweise weist Jesus Christus dabei seine Jünger auf Gott den Vater hin. Dieser ist ihr Maßstab. Dies entspricht dann auch ganz genau dem, was Jahwe, der Gott Israels, seinem Volk über sich selbst offenbart hat. 

In 2Mo 34,6 heißt es beispielsweise: „Und der HERR ging vor seinem Angesicht vorüber und rief: Jahwe, Jahwe, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und reich an Gnade und Treue.“ 

Gottes Barmherzigkeit wird an dieser Stelle interessanterweise als erste Eigenschaft Gottes genannt. Schon im Alten Testament wird dabei deutlich, dass sich Gottes Barmherzigkeit nicht nur seinem Volk zuwendet, sondern alle seine Werke einschließt. In Psalm 145,9 heißt es dementsprechend: „Der HERR ist gut gegen alle, sein Erbarmen ist über alle seine Werke.“

Und genau diesen Aspekt betont auch unser Herr Jesus Christus in seiner Predigt in Lk 6. Selbst Feinden gegenüber erwartet der Herr von seinen Jüngern Liebe. (vgl. Vers 35) Auch darin geht der HERR uns voran, denn ER ist „gütig“ gegen die Undankbaren. 

Unser Herr Jesus erwartet also von uns, dass wir uns derjenigen Menschen erbarmen, die unser Erbarmen brauchen. Die Sündhaftigkeit jedes Menschen soll uns also nicht davon abhalten, ihn oder sie in ihrem Elend und ihrer Schwachheit zu sehen. Gerade im Lukasevangelium wird deutlich, wie unser Herr Jesus Christus als der „Freund der Sünder“ alle Menschen, egal welcher Herkunft und sozial-religiöser Prägung, in seiner Nähe hatte und sich ihrer erbarmte. Das waren dann Lukas zufolge unter anderem Frauen, Zöllner, Prostituierte, Arme, Reiche, Lamme, Besessene, Blinde, Verkrüppelte und auch Heiden. Lukas hat dabei vor Augen, dass auch Jesu Jünger diese inklusive Einstellung teilen.

Der barmherzige Jesus

In Mt 14,14 lesen wir folgendes über unseren Herrn Jesus Christus. „Und als er ausstieg, sah er eine große Volksmenge, und er wurde er sehr stark emotional bewegt über sie und heilte ihre Kranken.“

Unser Herr Jesus Christus sah die Not der Menschen und er erbarmte sich. Es ist sehr wichtig, dass wir dies verstehen. Ja, alle Not der Menschen kommt letztendlich durch die Sünde, Christus sah jedoch nicht nur ihre Sünde, er sah auch ihre letztendlich durch die Sünde verursachte Not. 

In Mk 6,34 heißt es, dass Jesus Christus sehr stark bewegt war über die Volksmenge, „denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.“ 

Ich weiß nicht, ob Du schon einmal geschundene, verdreckte, hungrige Schafe gesehen hast. Sie sind ein absolut mitleidserregender Anblick. Oder stell Dir ein Baby vor, das sich selbst für einen Tag lang überlassen ist. 

In 1Petr 1,24-25 steht.  Denn „alles Fleisch ist wie Gras und alle seine Herrlichkeit wie des Grases Blume. Das Gras ist verdorrt, und die Blume ist abgefallen; aber das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit.“

Der Mensch ist ganz allgemein ein vergängliches, schwaches, elendes Wesen. Im Gehorsam Christus gegenüber sind wir aufgerufen, wie Jesus und wie der Vater jeden Menschen, egal welcher Herkunft, genauso anzusehen. So, wie eben elende Schafe oder ein kleines hilfloses Kind.

Und das gilt auch ausdrücklich für die Menschen, die Dinge tun, die nicht in Ordnung sind, die nicht mit Gottes Willen und Maßstab übereinstimmen.

Wir sind also aufgerufen, sie zu lieben und uns ihrer zu erbarmen. In Vers 37 heißt es dann auch dementsprechend: „Und richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet werden; und verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt werden. Lasst los, und ihr werdet losgelassen werden.“

Hier wird uns gesagt, was wir nicht mit den Menschen tun sollen: Wir sollen sie nicht richten und nicht verurteilen. Natürlich ist an dieser Stelle nicht gemeint, dass wir falsche Meinungen, Haltungen oder Taten nicht als solche erkennen oder benennen dürfen. Es geht hier vielmehr um eine richtende und verurteilende Herzenshaltung, die dem anderen erbarmungslos und ohne Gnade und Mitgefühl wie eine Kampfmaschine entgegentritt. 

Genau dieses erbarmungslose Vorgehen ist nun nicht nur herz- und lieblos, es ist auch so einseitig, dass es die Augen vor der Bedürftigkeit und Gefallenheit und vielleicht auch Verlorenheit des anderen (im Falle von Menschen ohne Christus) verschließt. In systematisch-theologischen Begriffen gesagt, offenbart diese Haltung eine unbiblische Anthropologie – d.h. falsche Lehre vom Menschen.  Und so macht unser Herr Jesus Christus indirekt deutlich, dass diese falsche unbarmherzige Anthropologie einer falschen Theologie, .d.h. Gotteslehre entspringt. Denn wir sind ja aufgefordert, uns von dem Leid und Elend unserer Mitmenschen so bewegen zu lassen, wie es der himmlischen Wahrheit vom barmherzigen himmlischen Vater entspricht. Wer den anderen unbarmherzig richtet, hat sowohl das Wesen des Vaters als auch das Wesen seines Nächsten vergessen und lebt gewissermaßen in der Lüge bzw. Unwahrheit.

Jünger Jesu müssen Gott und Mensch so, wie sie der Bibel zufolge und Jesus Christus entsprechend wirklich sind, beständig im Auge behalten. Dies darf jedoch nicht abstrakt oder rein theoretisch geschehen. Vielmehr sind wir aufgefordert in der Erkenntnis Christ zu leben und ganz bewusst in seinem Erbarmen zu bleiben.

Im bekannten Lied von Philipp Friedrich Hiller wird unsere Erfahrung Gottes durch das Evangelium so ausgedrückt.

Mir ist Erbarmung widerfahren,
Erbarmung, deren ich nicht wert;
das zähl ich zu dem Wunderbaren,
mein stolzes Herz hat's nie begehrt.
Nun weiß ich das und bin erfreut
und rühme die Barmherzigkeit.

Erst dieses Erbarmen selbst erlebt zu haben, versetzt uns in die Lage, unserem Nächsten – und hier meine ich auch den für uns unangenehmen Menschen – in genau dem von Jesus Christus in Lk 6 beschriebenen Erbarmen zu begegnen und im Übermaß zu geben.

In Lk 6,38 heißt es dann ja auch: „Gebt, und es wird euch gegeben werden: ein gutes, gedrücktes und gerütteltes und überlaufendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn mit demselben Maß, mit dem ihr messt, wird euch wieder gemessen werden.“

Was uns also gegeben wurde, ist weiterzugeben. Unser Erbarmen wird also dementsprechend inklusive und umfassend sein. Auch wird es nicht auf einen bestimmten Bereich im Leben der Menschen oder auf bestimmte Menschen (beispielsweise meine Familie oder Freunde) beschränkt bleiben.

Das Evangelium von Jesus Christus ist eine Verkörperung der Erbarmungen Gottes. So ermahnt der Apostel Paulus die Römer durch die in Kapitel 1-11 dargelegten „Erbarmungen“ Gottes, nun ihre Körper Gott zur Verfügung zu stellen.

Gott war sich nicht zu fein, Mensch zu werden und unsere schmutzige und elende Welt zu betreten. Paulus drückt es in seinem Brief an Titus in Kapitel 3,4-5 so aus.

 „Als aber die Güte und die Menschenliebe unseres Retter-Gottes erschien, rettete er uns, nicht aus Werken, die, in Gerechtigkeit vollbracht, wir getan hätten, sondern nach seiner Barmherzigkeit durch die Waschung der Wiedergeburt und Erneuerung des Heiligen Geistes.“

Die Güte und Menschenliebe unseres Retter-Gottes ist erschienen! 

Ja, davon ist auch das Lukasevangelium ganz besonders durchdrungen. Jesus Christus ist der Retter der Welt!

Lasst uns als seine, mit ihm verbundenen Jünger, der Not eines jeden Menschen in großem Mitgefühl entgegentreten und ihm so, wie wir es vermögen, ganz praktisch in Wort und Tat zu helfen. Gehen wir nicht an der Not unseres Nächsten vorbei! Schaut ganz genau hin! Und dann tut alles, was nötig ist! Und falls Du dazu einen medizinischen Schutzanzug anziehen muss, denn tue es!

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