Jakobs Staerke

Jakobs Stärke und Gottes Schwäche

Jakob war zum Kämpfen geboren. In 1.Mose 25,22 wird erzählt, dass er bereits im Bauch seiner Mutter mit seinem Zwillingsbruder Esau kämpfte; und während der Geburt hielt er ihn an der Ferse fest. Deshalb wurde ihm auch der Name „Yakov“, also „Fersenhalter“ gegeben. Dieser Name enthielt die negative Bedeutung eines Verleumders, Betrügers oder Lügners. Im Laufe der Geschichte sieht man, dass dieser Name sehr gut zum Charakter Jakobs passte. Zum Beispiel sagt Isaak, Jakobs Vater in 1.Mose 27,35 wortwörtlich, dass Jakob ihn betrogen und seinem Bruder Esau den Segen weggenommen hatte.

Das kuriose daran ist, dass ausgerechnet durch diesen betrügerischen Akt Jakobs dem Volk Israel der göttliche Segen, das verheißene Land, zukam. Hätte Jakob nicht die Kleidung seines Bruder angezogen und sich als Esau ausgegeben, wäre das Land und der Segen Gottes auf Esau und dessen Nachkommen, die Edomiter, übergegangen. Im Grunde kann man sagen, dass uns das 1. Buch Mose berichtet, dass das verheißene Land rechtlich niemals wirklich dem Volk Israel gehörte. Rein rechtlich gehörte es Isaaks erstgeborenem Sohn Esau. Aber ist das wirklich der Weg, wie Gott seine Verheißungen an Abraham erfüllt? War der Betrug eines Mannes wirklich der Weg, wie Gottes Volk die Verheißungen Gottes erlangen sollte?

Wer war Jakob wirklich?

Es ist schon erstaunlich, dass die Bibel uns hier Jakob, den Staatengründer Israels, ganz ungeschönt als intriganten Betrüger präsentiert. Welche andere Nation in der Geschichte würde ihren Landesvater in dieser Weise darstellen? Da überrascht es nicht, dass nicht alle Ausleger mit dieser Sichtweise einverstanden sind. Ein bekannter amerikanischer Radioprediger, Dennis Prager, hat in seinem Kommentar zum 1. Buch Mose geschrieben: „Jakobs Verhalten wird oft als skrupellos dargestellt. Das ist allerdings sehr fraglich“ (S.301).

Ein anderer Bibelausleger schreibt: „Ja, Jakob war ein Betrüger. Aber nicht jeder Betrug ist gleich sündhaft. In Jakobs Fall war es ein gerechter Betrug. Jakob war ein guter Mann, ein tadelloser Mann … der gerechterweise nur diejenigen betrog, die gegen Gottes Bund waren.“

Ohne jede Frage versuchen diese Autoren Jakobs Verhalten zu rechtfertigen, weil sie in ihm den Held der Geschichte sehen wollen – oder sehen müssen. Denn immerhin änderte Gott Jakobs Namen später in Israel. Das heißt, weil er die Hauptfigur der zukünftigen Nation ist, muss er doch der Gute in der Geschichte sein, oder etwa nicht?

Meines Erachtens berichtet uns die Bibel hier einfach, dass Jakob einen verdorbenen Charakter hatte und dass er tatsächlich ein hinterlistiger Betrüger war. Und dennoch, aus irgendeinem Grund gestattet ihm Gott den Segen des verheißenen Landes, trotz all seiner Sünden. Aber die Geschichte erzählt uns noch mehr. Denn der Segen, den Jakob erhielt, hatte einen großen Preis. An dem Tag, als Jakob das verheißene Land erhielt, musste sein Bruder Esau es verlassen. Während Jakob mit dem fruchtbaren Land Kanaan gesegnet wurde, begab sich Esau in die trockene und unfruchtbare Region Edom.

Der heilsgeschichtliche Kontext

Am ehesten verstehen wir die geschilderten Ereignisse, wenn wir sie im Gesamtbild der Heilsgeschichte betrachten. In dem Fall sind wir nämlich Jakob sehr ähnlich. Wir sind genauso verdorben und sündhaft wie er. Und auch wir haben keinerlei Anrecht darauf, in Gottes verheißene Ruhe zu kommen. Wenn wir aber, wie Jakob, die Kleider des erstgeborenen Sohnes Gottes tragen, die Identität des Einen annehmen, der das Erstgeburtsrecht hat, um für alle Ewigkeit in Gottes Reich und Gottes Gegenwart zu wohnen, wenn wir seine Gerechtigkeit wie einen Umhang tragen, dann wird Gott uns den Zugang zu seinem himmlischen Jerusalem ganz sicher nicht verwehren.

Doch wie schon in Jakobs Geschichte, kommt auch bei uns all dies nur unter großen Kosten zustande. Jesus Christus hat für uns den Fluch getragen, damit wir den Segen erben können. Damit wir uns Gott nahen dürfen, musste Er „außerhalb des Lagers … seine Schmach tragen“ (Hebr 13,12-13). Er starb für uns, damit wir durch Ihn leben.

War Jakob ein Held?

Aber betrachten wir erst einmal den Kampf Jakobs aus 1.Mose 32. Als ich damit begann, die unterschiedlichen Interpretationen der Jakob-Geschichte zu studieren, hatte ich den Eindruck, dass die meisten Ausleger davon überzeugt waren, dass Jakob ein absoluter Held war. In Kapitel 32 finden wir ihn in einem Ringkampf mit Gott; und es scheint, als wäre es allein Jakobs Hartnäckigkeit gewesen, durch die er so lange an Gott festhielt, bis dieser bereit war, ihn zu segnen. Nun kommen viele der Ausleger zu dem Ergebnis, die praktische Anwendung für uns bestehe darin, wir müssten so lange mit Gott im Gebet ringen, bis wir das Erbetene von Ihm erhalten. Wie Jakob sollten wir an Gott festhalten und nicht loslassen, bis Er uns segnet.

Dies finden wir zum Beispiel bei Matthew Henry. Er schreibt über 1.Mose 32: „Jakob rang wie ein Champion aber weinte wie ein kleines Kind. Daraus lernen wir, dass Gebet und Tränen die Waffen sind, durch die die Heiligen die größten Siege errungen haben.“

Nach dieser Sicht ist Jakob ein Held, der mit Gott ringt und als Sieger hervorgeht. Dasselbe finden wir auch bei respektablen Auslegern wie Martin Luther, Johannes Calvin oder Sinclair Ferguson.

In seinem neusten Kommentar zu 1.Mose spricht der schon erwähnte Dennis Prager davon, dass diese Szene aus Kapitel 32 zentral für die ganze Jakob-Geschichte ist. Denn hier empfängt Jakob seinen neuen Namen und seine neue Identität. Prager schreibt:

„Es ist unmöglich, dass wir der Namensänderung von Jakob zu Israel zu viel Bedeutung einräumen. Israel heißt ‚der mit Gott kämpft‘. Die Tatsache, dass Gott selbst einem seiner Leute diesen Namen gibt, zeigt doch, dass Er von uns erwartet, dass wir, wenn wir an Ihn glauben, auch mit Ihm ringen. Es gibt Gläubige, die denken, Glaubenskämpfe im Sinne von Gott hinterfragen oder Ihn anzweifeln sei etwas Schlechtes oder Unfrommes. Doch Gott zeigt uns hier, dass es nicht nur nicht schlecht ist, sondern dass Er es sogar von uns erwartet, ja dass wir am Ende des Kampfes sogar etwas verdienen“ (S. 386).

Das Problem mit dieser Interpretation von Prager ist ganz offensichtlich. Denn Jakob hatte hier ganz eindeutig nicht mit Zweifeln an Gott oder mit Fragen in irgendeiner Weise zu kämpfen. Wer die Geschichte einfach nur liest, wird dabei feststellen, dass Jakob einfach so, mitten in der Nacht angegriffen wurde. Und sein Kampf war eine echte körperliche Auseinandersetzung und keine geistliche.

Prager hat den Text ganz einfach vergeistlicht und damit seine Bedeutung völlig verändert. Das tun Prediger leider nicht selten. Wir finden dies auch öfters bei Stellen wie Markus 4,39, wo Jesus sich mit seinen Jüngern mitten im Sturm auf einem Boot befindet und dem Wind und den Wellen befiehlt, still zu sein. Manche Prediger denken: „Wenn Jesus dem Wind und den Wellen befehlen kann, dann kann Er sich auch um die Stürme unseres Lebens kümmern.“ Wenn wir aber die Ereignisse aus Markus 4 anschauen, fällt auf, dass keiner der Jünger so reagiert. Sie sagen nicht: „Wow Jesus! Wie ich gesehen habe, hast du ein Händchen für schwierige Situationen. Weißt du, es gibt da einige Dinge in meinem Leben, bei denen ich deine Hilfe gebrauchen könnte.“ Nein, die Reaktion der Jünger ist ganz anders: „Sie wurden mit großer Angst erfüllt und sagten sich: Wer ist dieser Mensch, dass ihm sogar der Wind und die Wellen gehorchen?“ Es geht ihnen hier voll und ganz darum, wer Jesus ist. Es geht um seine Identität und nicht darum, wie Er sich um unsere Anliegen kümmern kann.

Aber Prager geht noch weiter; er behauptet, dass Zweifel an Gott und das Hinterfragen Gottes sogar gut sind und etwas verdienen. Hier müssen wir vielleicht berücksichtigen, dass Prager aus jüdischem Hintergrund kommt, und in der jüdischen Theologie findet man diese Sicht durchaus vertreten. Unter Christen hat eine solche Denkweise aber definitiv nichts zu suchen. Denn wenn die Lektion aus 1.Mose 32 lauten würde, dass wir so lange mit Gott ringen und an Ihm festhalten sollten, bis Er uns schließlich Seinen Segen gibt, dann ist dieser Segen ganz klar eine Gegenleistung für unsere Leistung im Ringen und Festhalten. Auch wenn die meisten christlichen Ausleger es vermeiden, diesen speziellen Begriff des Verdienstes zu verwenden, führen viele Auslegungen trotzdem in diese Richtung, sodass der Eindruck entsteht, wir könnten Gottes Segen durch unser eigenes Zupacken, Ringen und durch hartnäckiges Festhalten erreichen.

Was tat Jakob wirklich?

Wenn du die Geschichte von Jakob kennst, weißt du, dass er unmittelbar nach diesem Ereignis in seine alte Heimat, das Land der Verheißung, zurückkehrt. Mittlerweile sind ungefähr zwanzig Jahre vergangen, seit er nach Haran geflohen war, um nicht von seinem Bruder Esau wegen seines Betrugs um das Erstgeburtsrecht ermordet zu werden. Die Flucht vor Esau wird in Kapitel 28 berichtet. Dort lesen wir auch von dem Traum, den Jakob während seiner Flucht hatte – und zwar von einer großen Leiter, die von der Erde bis zum Himmel reichte, auf der Engel auf und ab gingen, und dass Jahwe dort zu ihm sprach und ihm die Verheißung gab:

„Ich bin mit dir, und ich will dich behüten überall, wohin du gehst, und dich in dieses Land zurückbringen; denn ich werde dich nicht verlassen, bis ich getan habe, was ich dir verheißen habe.“

1. Mose 28,15

Was hatte Jakob getan, um eine so großartige Verheißung zu bekommen?

Die Antwort ist: Absolut nichts! Er hatte weder gekämpft noch etwas ergriffen oder festgehalten – er hatte nichts getan! Stattdessen war er aus dem Land der Verheißung geflohen, um seine eigene Haut zu retten. Jakob hatte keinen Turm zum Himmel gebaut, wie die Leute aus Babel vor ihm (vgl. 1Mo 11); er hatte auch nicht versucht, die Leiter zum Himmel hochzusteigen – auch wenn es nur ein Traum war. Nein, er hatte einfach nur auf dem Boden gelegen und geschlafen. Deshalb ist dieser Moment eine unmissverständliche Demonstration von Gottes Barmherzigkeit und Gnade. Denn niemand von uns wird jemals durch eigenes Ringen oder Kämpfen gerettet, sondern einzig und allein durch das gnädige und barmherzige Eingreifen Gottes.

Wen fürchtete Jakob wirklich?

Kehren wir aber zurück zu dem Moment, als Jakob zwanzig Jahre später nach Hause zurückkehrt. Es scheint, als hätte er an diesem Tag gar nicht an Gott gedacht. Seine Gedanken waren völlig von einem ganz anderen „Herrn eingenommen. In Kapitel 32 Vers 4-6 wird berichtet, wie er seinen Knechten Instruktionen gab. Sie sollten seinem Bruder Esau entgegengehen und ihm sagen:

„So spricht dein Knecht Jakob: Bei Laban habe ich mich als Fremder aufgehalten und bin bis jetzt geblieben; und ich habe Rinder und Esel, Schafe und Knechte und Mägde; und ich sende ⟨Boten⟩, es meinem Herrn mitzuteilen, um Gunst zu finden in deinen Augen.“

Das Wort „Gunst“ kann auch mit „Gnade“ übersetzt werden. Jakob war also so darauf konzentriert, die Gnade seines Bruders Esau zu bekommen, dass er völlig vergessen hatte, dass ihm Jahwe doch schon Seine Gnade versprochen hatte. Und als dann noch seine Knechte wenig später zurückkommen und berichten, Esau komme ihm mit vierhundert Mann entgegen, da bekam Jakob Todesangst. Er wandte sich an Gott und flehte Ihn um Rettung an, weil er glaubte, dass Esau „kommt und uns erschlägt, die Mütter samt den Kindern“.

Jakob tat alles, um seinen Bruder Esau milde zu stimmen. Er sandte ihm mehrere Hundert Schafe, Ziegen, Kühe, Kamele und Esel als Geschenke. Dies war sein Versuch, Esau zu „versöhnen … denn vielleicht wird er mich dann annehmen“ (V.21). Auch hier finden wir eine interessante Wortwahl; denn der Begriff „annehmen“ wird auch in 1.Mose 4,7 verwendet, als Gott zu Kain sagte: „Wird nicht, wenn du recht handelst, dein Opfer angenommen?“ Leider tat Kain nicht, was recht war, sondern tötete seinen Bruder und wurde in das Land „östlich von Eden“ verbannt (V.16).

Aber was geschah mit Jakob? Tat er was recht war in Gottes Augen? Nein! Auch er sündigte gegen Gott und gegen seinen Bruder. Warum also wurde Jakob in das Land der Verheißung gebracht, anstatt wie Kain von Gott verbannt zu werden? Den Grund dafür finden wir immer wieder in der Bibel. Denn obwohl Jakob es vollkommen verdient hätte, aus dem Bürgerrecht des Volkes Gottes ausgeschlossen zu werden, hat er es allein Gottes unaussprechlicher Gnade und Barmherzigkeit zu verdanken, dass ihm doch die Verheißungen Abrahams und der damit verbundene Segen geschenkt wird.

Mit wem kämpfte Jakob?

Aber achten wir darauf, was als nächstes geschieht. In 1.Mose 32,23 ff. wird uns gesagt:

„Und er stand in jener Nacht auf, nahm seine beiden Frauen, seine beiden Mägde und seine elf Söhne und zog über die Furt des Jabbok; und er nahm sie und führte sie über den Fluss und führte hinüber, was er hatte. Und Jakob blieb allein zurück.“

Warum tat er das? Weil er Angst hatte, Angst davor, dass sein Bruder kommen und alles vernichten würde, was er hatte, einschließlich der „Mütter samt den Kindern“. Wir wissen, dass Jakob schon einen Teil seines Besitzes an Esau verschenkt hatte. Doch falls das nicht ausreichen würde, um den Zorn seines Bruders zu stillen, wäre es sicherer, seine Frauen und Kinder aus der Gefahrenzone zu bringen. Vermutlich dachte Jakob: „Wenn Esau schon kommt, um mich fertig zu machen, dann ist das eine Sache zwischen mir und ihm.“

Doch dann lesen wir: „Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte heraufkam.“ Was muss wohl in Jakob vorgegangen sein, als er so plötzlich, mitten in der Nacht, angegriffen wurde? Nun, das ist nicht schwer zu erraten. Nach allem, was wir von Jakob und über seine Vergangenheit wissen, wird er wohl gedacht haben, dass es sein Bruder Esau war, der ihn da überfiel.

In ihrem sehr empfehlenswerten Buch Echoes of Exodus schreiben Alastair Roberts und Andrew Wilson: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass Jakob bei der Überquerung des Flusses, mitten in der Nacht, dachte, der Mann, der ihm da gegenüberstand und ihn angriff, sei sein Bruder Esau (der, vor dem er so große Angst hatte) … dies könnte auch erklären, warum er so verzweifelt bemüht war, den Namen des Mannes herauszufinden, nachdem dieser ihn nach seinem Namen gefragt hatte. Erst als die Morgenröte anbrach stellte Jakob fest, dass es Gott selbst gewesen war, mit dem er gerungen hatte“ (S.77). Auch John Lennox, der bekannte Oxford Professor schreibt in seinem Buch über das Leben Josefs:

„Jakob blieb allein zurück, um ihn herum wurde es dunkel, und er stellte sich mit wachsender Angst vor, dass die nächste Person, der er begegnen würde, Esau ist. Vermutlich hatte er beschlossen, Esau allein gegenüberzutreten, um so seine eigene Familie zu schützen. Aber er war nicht allein. Ohne Vorwarnung wurde er mitten in der Nacht angegriffen … Wahrscheinlich dachte er, es wäre sein Bruder Esau, den die großzügigen Geschenke nicht hatten umstimmen können. Und nun war er gekommen, um Jakob zu töten. Sein Schicksal würde sich hier und jetzt durch einen nächtlichen Zweikampf entscheiden … Doch je länger der Kampf andauerte, umso mehr Zweifel kamen in Jakob hoch, dass dies wirklich sein Bruder war. Etwas an dieser Begegnung war seltsam. Hier stand ihm jemand vollkommen anderer gegenüber“ (S.48).

Wer erhält den Segen?

Dass Jakob dachte, er würde mit seinem Bruder Esau kämpfen, ist ein ziemlich passender Gedanke, wenn wir berücksichtigen, dass er im Grunde schon sein ganzes Leben lang mit ihm gekämpft hatte. Bereits im Mutterleib hatte Jakob damit begonnen und seither nicht aufgehört. Aber in Vers 26 wird uns der Hinweis gegeben, um wen es sich bei diesem Gegner handelte: „Als er sah, dass er ihn nicht überwältigen konnte, berührte er sein Hüftgelenk; und das Hüftgelenk Jakobs wurde verrenkt, während er mit ihm rang.“ Auch wenn es heißt, dass der Gegner Jakob nicht überwältigen konnte, scheint doch nur eine kleine Berührung nötig, um Jakobs Hüftgelenk auszurenken – so als hätte der Gegner übernatürliche Kraft.

Wir müssen bedenken, dass es völlig dunkel war, weshalb Jakob nicht alles mitbekam, was geschah. Aus seiner Perspektive war es vermutlich ein normaler Zweikampf, bis er plötzlich einen starken Schmerz in der Hüfte spürte. Der in Vers 27 noch immer unbekannte Mann sagte zu Jakob: „Lass mich los, denn die Morgenröte ist aufgegangen!“ Aber Jakob antwortete: „Ich lasse dich nicht los, es sei denn, du hast mich vorher gesegnet.“

Müssen wir also an diesem Punkt davon ausgehen, dass Jakob hier einen Segen von Gott verlangte? Damit meine ich: Gibt uns der Text einen Anhaltspunkt dafür, dass Jakob tatsächlich die wahre Identität seines Gegners erkannt hatte? Was wir tatsächlich feststellen können, ist die Tatsache, dass Jakob über die Identität seines Gegners verwirrt war. Zumindest dann, als er Ihn nach seinem Namen fragte (V.30). Deshalb glaube ich fest, dass Jakob, bis zu diesem Punkt glaubte, dass es sich bei seinem Gegner um seinen Bruder Esau handelte. In dem Fall ist also Jakobs Aufforderung, „Ich lasse dich nicht, es sei denn, du segnest mich!“, so zu verstehen, dass Jakob seinem Bruder sagt: „Du musst mich schon töten, denn aufgeben werde ich nicht. Dieser Kampf endet erst, wenn du zugibst, dass mir der Segen des Erstgeborenen zusteht.“

Denn genau das war es, worum es von Anfang an ging: Jakob wollte den Segen des Erstgeborenen! Esau erhielt das Erstgeburtsrecht nur durch „Zufall“, weil er als Erster geboren war; Jakob hingegen erwarb sich das Erstgeburtsrecht und den Segen durch Hinterlist und Betrug. Die Beiden, Jakob und Esau, hatten ihr Leben lang im Streit miteinander gelegen. Und jetzt war der Moment gekommen, in dem es sich entscheiden sollte – so dachte zumindest Jakob. Er glaubte, Esau habe ihn (wie befürchtet) attackiert, um die Sache ein für alle Mal zu beenden.

Doch dann sagte der Unbekannte in Vers 28 etwas zu Jakob, das ihn stutzig machen musste: „Was ist dein Name?“ Worauf Jakob – vermutlich etwas verwirrt – antwortete: „Jakob.“ Um die ganze Situation und die Frage besser einordnen zu können, sollten wir ein wenig in Jakobs Vergangenheit zurückreisen – zu 1.Mose 27.

Damals ging Jakob zu seinem blinden Vater Isaak und sagte: „Mein Vater!“ Isaak sagte: „Hier bin ich. Wer bist du, mein Sohn?“ Und Jakob sagte zu seinem Vater: „Ich bin Esau, dein Erstgeborener.“ (V.18-19). Erkennst du, was das für eine miese Masche war, die Jakob da abgezogen hatte, um seinem Bruder den Segen zu stehlen? Und nun, als Jakob Jahre später in das Land zurückkehren will, das eigentlich seinem Bruder Esau gehören sollte, tritt Gott ihm in Gestalt eines Menschen entgegen und klärt Jakob über seinen wahren Namen und seine wahre Identität auf.

Nicht mehr Jakob, sondern Israel

Gott sagt zu ihm: „Nicht mehr Jakob soll dein Name sein, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast überwältigt.“ Jakobs Reaktion darauf zeigt, dass ihn diese Worte verwirren. Er fragt nach dem Namen des Mannes, obwohl dieser ihm gerade gesagt hat, dass er mit Gott gekämpft hat. Also antwortet Gott ihm: „Warum fragst du nach meinem Namen?“ Und hierauf folgt Gottes Segen: „Und er segnete ihn dort! Und Jakob gab der Stelle den Namen Pnuël; denn ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin am Leben geblieben!“ (V.30-31; Menge).

Denken wir mal kurz darüber nach. Will uns die Bibel wirklich glauben machen, dass Jakob den Segen aufgrund seiner Willensstärke und seines Durchhaltevermögens verdient hatte? Soll Jakob wirklich so ein guter Kämpfer gewesen sein, dass selbst Gott ihn nicht bezwingen konnte? Natürlich ist das Unsinn!

Jakob wurde weder aufgrund seiner Stärke noch seiner Hartnäckigkeit gesegnet; er bekam den Segen erst dann, als er innehielt und feststellte, dass es in Wahrheit sein eigener Schöpfer war, mit dem er rang. Er hatte „Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und [ist] am Leben geblieben!“ Aber eigentlich war er nicht einfach nur am Leben geblieben, er hatte sogar Gott „überwunden“! Aber wie soll das gehen? Wenn hier wirklich Gott in menschlicher Gestalt Jakob gegenübergetreten war, hätte doch nur ein Wort genügt und Jakob wäre zu Staub zerfallen. Die einzige Lösung für diese „mysteriöse Stelle“ ist die, dass Jakob im Kampf überlegen war, weil Gott es so wollte. Gott hatte es so geplant.

Warum, das erklärt sich vielleicht, wenn wir Revue passieren lassen, dass Jakob den Segen auf Kosten seines eigenen Bruders bekam. Jakob erhielt das wundervolle Land, die Verheißungen und den Segen, während Esau hingegen die karge Wüstenregion Edom bekam. Das Ganze erscheint mehr als unfair, dass Jakob hier für seinen Betrug auch noch belohnt wird. Da hofft man schon fast darauf, dass Gott in Kapitel 32 das Ganze wieder ins Gleichgewicht bringt und Jakob eine Lektion erteilt; aber nichts geschieht, im Gegenteil!

Gott erlaubt ihm sogar, einen seltsamen und unerwarteten Kampf mit Gott zu führen, bei dem Jakob Gott fast schon besiegt. Und dann gibt Gott ihm auch noch einen neuen Namen: Israel, was übersetzt heißt: „der mit Gott ringt“. Hier haben wir die Geburtsstunde der Nation Israel, das Volk, das als Jakobs Nachkommen die Verheißungen Gottes und das Land erben würde. Hier, an diesem Punkt, ist der Beginn der Geschichte Israels – in einem Moment, in dem nicht Jakobs Stärke im Mittelpunkt steht, sondern Gottes Schwäche und entgegenkommende Gnade. Paulus schreibt davon in 1.Korinther 1,25:

„Denn die Torheit Gottes ist weiser als die Menschen, und die Schwachheit Gottes ist der Stärke der Menschen überlegen“ (Menge).

In seinem Kommentar zu dieser Geschichte schreibt Augustinus etwas, das uns vielleicht helfen kann:

Jakob hielt die Ferse seines Bruders fest, da dieser ihm in der Geburt vorauseilte, und … weil er die Ferse seines Bruders festhielt, wurde er Jakob, „Fersenhalter“ genannt. Später aber, als der Engel des HERRN mit ihm auf dem Weg rang, haben wir ein Ereignis, das geheimnisvoll, heilig und prophetisch zugleich ist. Denn was kann für ein Vergleich könnte gezogen werden zwischen der Stärke des Engels und der Stärke des Menschen? Dennoch überwand Jakob den Engel. Und als er, obwohl er Mensch war, den Engel überwand, hielt er ihn fest und sprach zu ihm: ‚Ich lasse dich nicht, es sei denn, du segnest mich.‘ Dieses Bild des Überwinders, der den Segen des Überwundenen empfängt, ist ein Bild, das auf Christus hindeutet. Der Engel des HERRN, der allgemein als unser Herr Jesus Christus gilt, sprach zu Jakob: „Du sollst nicht länger Jakob heißen, sondern Israel soll dein Name sein.“ … Dass der HERR große Macht hatte, sehen wir darin, dass Er, obwohl Er überwunden wurde, nur eine einzige Berührung brauchte, damit Jakobs Hüfte verrenkte und er lahm wurde. Es war also Sein eigener Wille, dass Er sich von Jakob überwinden ließ. Denn Er allein hat „die Vollmacht, [seine Macht] zu lassen“, und „die Vollmacht, wiederzunehmen“ (Joh 10,18). Daher war es für Christus kein Ärgernis, im Kampf zu unterliegen, so wie es für Ihn zwar schwer aber kein Ärgernis war, gekreuzigt zu werden“ (Sermonis LXXII).

Ich bin davon überzeugt, dass Augustinus hier den Nagel auf den Kopf trifft. Aufgrund dieser Ereignisse aus 1.Mose 32 werden Jakobs Nachkommen später als „Volk Israel“ bekannt. Somit ist dieser Abschnitt für die gesamte Heilsgeschichte von großer Bedeutung. Leider wird diese Tatsache von vielen Auslegern nicht beachtet. Sie meinen, es ginge hier um die Aufforderung, mit Ausdauer und Hartnäckigkeit zu beten. Aber sollte das wirklich die Moral dieser wichtigen Geschichte sein?

Jakob und Jesus

Im Neuen Testament finden wir in Johannes 11 den Bericht über eine Ratsversammlung der Juden. Es wird erzählt, wie inmitten dieser Ratsversammlung ein Mann aufstand und sagte:

„‚Was tun wir? Denn dieser Mensch [gemeint ist Jesus] tut viele Zeichen. Wenn wir ihn lassen, werden alle an ihn glauben, und die Römer werden kommen und unsere Stadt wie auch unsere Nation wegnehmen.‘ Einer aber von ihnen, Kaiphas, der jenes Jahr Hoher Priester war, sprach zu ihnen: ‚Ihr wisst nichts und überlegt auch nicht, dass es euch nützlich ist, dass ein Mensch für das Volk stirbt und nicht die ganze Nation umkommt.‘“

Johannes 11,47-50

Hier sehen wir, dass Jakobs Kinder ihrem Vater sehr ähnlich sind. Sie sind noch immer kräftig dabei zu ringen und Pläne auszuhecken. Hier wollen sie versuchen, einen Plan zu schmieden, der ihnen dabei hilft, im Verheißenen Land zu bleiben und ihren Segen zu bewahren – aus eigener Kraft, Anstrengung und Klugheit.

Es fällt auf, dass sie die Römer viel mehr fürchten als Gott. Tatsächlich waren sich die geistlichen Leiter Israels nicht einmal bewusst, dass der Mann, den sie gerade verhaftet hatten, der König des Himmels und der Erde ist – der Sohn Gottes, der als Mensch zu ihnen gekommen war. Er hatte für sie „keine Gestalt und keine Pracht. Und als wir ihn sahen, da hatte er kein Aussehen, dass wir Gefallen an ihm gefunden hätten“ (Jes 53,2). Doch trotz all ihrer Bosheit war Gott dabei, aus ihren hinterlistigen Plänen etwas Gutes zu bewirken – für sie und auch für uns. Petrus sprach darüber sehr deutlich in seiner Pfingstpredigt:

„Männer von Israel, hört diese Worte: Jesus, den Nazoräer, einen Mann, der von Gott euch gegenüber erwiesen worden ist durch Machttaten und Wunder und Zeichen, die Gott durch ihn in eurer Mitte tat, wie ihr selbst wisst – diesen ⟨Mann⟩, der nach dem bestimmten Ratschluss und nach Vorkenntnis Gottes hingegeben worden ist, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen an ⟨das Kreuz⟩ geschlagen und umgebracht … Das ganze Haus Israel soll nun zuverlässig erkennen, dass Gott ihn sowohl zum Herrn als auch zum Christus gemacht hat, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt.“

Apostelgeschichte 2,22-36

Die Leiter Israels glaubten, sie würden sich und dem Volk einen Gefallen tun und ihren Verbleib im Verheißenen Land sicherer machen, indem sie Jesus dem Tod ausliefern. Ihr Plan war durch und durch böse und ungerecht, aber Gott verfolgte dennoch einen wundervollen Plan damit. Durch ihre Ungerechtigkeit und Sünde dürfen wir Zugang zu Gottes Land der ewigen Ruhe haben. Christus machte sich für uns niedrig, damit wir durch Ihn das Höchste bekommen, das man sich vorstellen kann. Paulus schreibt in Philipper 2, dass „Jesus, der in Gestalt Gottes war, es nicht wie einen Raub festhielt Gott gleich zu sein. Sondern er entäußerte sich und nahm Knechtsgestalt an, indem er den Menschen gleich geworden ist, und der Gestalt nach wie ein Mensch befunden, erniedrigte er sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz“ (V.6-8). Auf all dies war der Kampf zwischen Jakob und Gott im gewissen Sinne eine Andeutung.

Deshalb ist die Moral der Geschichte von Jakobs Kampf nicht: Halte durch, sei wie Jakob und weigere dich loszulassen, sei hartnäckig im Gebet und dann bekommst du am Ende Gottes Segen. Nein, die Geschichte handelt vielmehr von Gottes großem Sohn – von Jesus, und davon, dass Er sich weigerte festzuhalten! Er hielt es nicht wie einen Raub fest, Gott gleich zu sein, sondern gab alles auf, für uns! Allein durch Seinen Verlust bekommen wir den ewigen Segen Gottes geschenkt. Das Evangelium Jesu ist die Botschaft darüber, dass Gott, der stärker ist als alle, schwach wurde um unseretwillen.


© Shane Rosenthal @ Whitehorseinn. Der Artikel kann im Original hier nachgelesen werden: Zum Artikel

Ähnliche Beiträge