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Ist es „ungeistlich“, entmutigt zu sein?

Von Zeit zu Zeit haben Christen im Laufe der Jahrhunderte gelehrt, dass eine wahrhaft geistliche Person niemals entmutigt sei – was nicht selten zu tragischen Konsequenzen führte. Auch heute existiert mitunter die Vorstellung, niedergeschlagen zu sein hieße, per Definition, „ungeistlich“ zu sein. Wenn wir nicht gut gegründet sind in der Heiligen Schrift, ist es sehr leicht für uns, durch solch eine Lehre überwältigt, verwirrt und sogar noch zusätzlich entmutigt zu werden.

Dabei scheint es doch an sich logisch zu sein: Wenn das Evangelium uns errettet, dann muss es uns doch auch von Entmutigung erretten! Schließlich sagt Gottes Wort auch: „In diesem allen sind wir mehr als Überwinder durch den, der uns geliebt hat“ (Röm 8,37).

Allerdings ist dies weder biblische Logik noch wahre Geistlichkeit. Denn das Evangelium rettet uns schließlich nicht vom Tod, indem es den Tod völlig wegnimmt, sondern indem es uns hilft, den Tod im Licht von Jesu Sieg zu sehen und ihn auf diese Weise zu „überwinden“. Dasselbe trifft auf die Sünde und auch auf das Thema „Entmutigung“ zu. Der Glaube an Christus nimmt nicht einfach alle Ursachen zur Entmutigung hinweg, sondern er befähigt uns, dagegen anzukämpfen und sie zu überwinden. Das heißt, wir können noch immer Entmutigung erfahren, aber sie werden uns nicht besiegen.

Die Behauptung, es wäre „ungeistlich“, entmutigt zu sein, entstammt einer „Übergeistlichkeit“, die unserer menschlichen Erfahrung widerspricht oder sie ignoriert. Wir bestehen aus Fleisch und Blut, sind mit Schwachheit und Zerbrechlichkeit behaftet. Wir leben in einer gefallenen Welt. „Die ganze Welt liegt im Bösen“, schreibt Johannes (1.Joh 5,19). Es gibt daher viel Grund zur Entmutigung. Jesus selbst musste das erfahren. Wenn wir von uns behaupten, gegen jede Entmutigung gefeit zu sein, dann behaupten wir, „geistlicher“ zu sein als Jesus – was zeigt, dass uns ein großes Maß an Geistlichkeit fehlt.

In Psalm 42 und 43 finden wir einen biblischen Umgang mit Entmutigung: wir nehmen sie wahr, wir erkennen sie als das, was sie ist, und wir analysieren die Gründe für ihre Gegenwart.

Psalm 42

Dem Chorleiter. Ein Maskil. Von den Söhnen Korachs. 

2Wie eine Hirschkuh lechzt nach Wasserbächen, so lechzt meine Seele nach dir, Gott! 3Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott: Wann werde ich kommen und erscheinen vor Gottes Angesicht? 4Meine Tränen sind mein Brot geworden Tag und Nacht, da man den ganzen Tag zu mir sagt: Wo ist dein Gott? 5Daran will ich denken und vor mir ausschütten meine Seele, wie ich einherzog, in der Schar sie führte zum Hause Gottes, mit Klang des Jubels und Dankes – ein feierlicher Aufzug.

6Was bist du so aufgelöst, meine Seele, und stöhnst in mir? Harre auf Gott! – denn ich werde ihn noch preisen für das Heil seines Angesichts.

Mein Gott, aufgelöst in mir ist meine Seele; darum denke ich an dich aus dem Land des Jordan und des Hermon, vom Berg Misar.

Urflut ruft der Urflut zu beim Brausen deiner Wassergüsse; alle deine Wogen und deine Wellen sind über mich hingegangen. 9Des Tages wird der HERR seine Gnade aufbieten, und des Nachts wird sein Lied bei mir sein, ein Gebet zu dem Gott meines Lebens.

10Sagen will ich zu Gott, meinem Fels: „Warum hast du mich vergessen? Warum muss ich trauernd einhergehen, bedrückt durch den Feind?“

11Wie Mord in meinen Gebeinen höhnen mich meine Bedränger, indem sie den ganzen Tag zu mir sagen: Wo ist dein Gott?12Was bist du so aufgelöst, meine Seele, und was stöhnst du in mir? Harre auf Gott! – denn ich werde ihn noch preisen, das Heil meines Angesichts und meinen Gott.

Psalm 43

Schaffe mir Recht, Gott, und führe meinen Rechtsstreit mit der gnadenlosen Nation! Vom Mann des Betrugs und des Unrechts rette mich!

2Denn du bist der Gott meiner Zuflucht. Warum hast du mich verworfen? Warum muss ich trauernd einhergehen, bedrückt durch den Feind?

3Sende dein Licht und deine Wahrheit; sie sollen mich leiten, mich bringen zu deinem heiligen Berg und zu deinen Wohnungen.

4So werde ich kommen zum Altar Gottes, zum Gott meiner Jubelfreude, und werde dich preisen auf der Zither, Gott, mein Gott!5Was bist du so aufgelöst, meine Seele, und was stöhnst du in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihn noch preisen, das Heil meines Angesichts und meinen Gott.

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Sinclair B. Ferguson

Sinclair B. Ferguson ist ein schottischer Theologe, Prediger und Lehrer für Systematische Theologie am Reformed Theological Seminary in Amerika.

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