Folge mir nach 1

„Folge mir nach!“ – Drei Worte, die die Welt veränderten

Das größte Geschenk im Leben ist das Leben selbst. Dein Leben ist kein Zufall. Gott wollte, dass es dich gibt. Wie findest du aber den Sinn deines Lebens, deinen ganz persönlichen Grund für alles, was du tust? Hast du einen Lebenssinn, der groß genug ist, um deine ganze Aufmerksamkeit zu beanspruchen, der tief genug ist, um jede noch so geheime Leidenschaft zu erklären, der stark genug ist, um dich bis zu deinem letzten Atemzug zu begeistern?

Nichts anderes in dieser Welt ist so mächtig und persönlich wie den Ruf Gottes, des Schöpfers zu hören; nichts ist so bedeutungsvoll wie die Entdeckung, dass der eigene Lebenssinn mit dem Zweck des Universums übereinstimmt. Dieser Zweck besteht darin, Gottes Ruf zu folgen, wohin er auch immer führen wird. Gott wollte, dass es dich gibt; er hat dich ins Dasein gerufen. Seinem Ruf zu folgen ist daher der beste Weg, etwas aus seinem Leben zu machen, der beste Weg zu tiefen Beziehungen, zur Selbsterkenntnis und zur Entfaltung. Es ist die herausforderndste, aufregendste und natürlichste Art zu leben und somit auch der ideale Weg, das meiste aus dem „großen Abenteuer Leben“ herauszuholen.

Gottes Ruf ist das Herzstück des Evangeliums, der besten Nachricht, die es gibt. Wenn wir aber entdecken wollen, was Gottes Ruf für uns alles beinhaltet, dann müssen wir ihn zuerst von all den Klischees und Verdrehungen befreien, die dem Begriff „Berufung“ noch immer anhaften. Vieler dieser Verdrehungen werden uns unterwegs begegnen, während wir die großen Wahrheiten von Gottes Ruf ausführlicher betrachten. Aber es lohnt sich, gleich zu Beginn auf zwei besonders weit verbreitete Verzerrungen hinsichtlich der Berufung einzugehen. Und zwar darauf, dass die Bedeutung der Berufung entweder unterschätzt oder sie ihres Inhalts beraubt wird.

Unterschätzt wird unsere Vorstellung der göttlichen Berufung heutzutage häufig, indem wir sie auf das Leben des Einzelnen reduzieren. Alles dreht sich nur noch um uns – ich, mich und mein, „weil wir es wert sind“. Und ja, Gottes Berufung betrifft auf ganz persönliche und intime Art und Weise jeden Einzelnen von uns. Aber gleichzeitig ergeht Gottes Ruf an eine neue Menschheit, und zwar zu einem neuen gemeinsamen Lebensweg, dessen Endziel der neue Himmel und die neue Erde ist. Daher hat Gottes Berufung eine überwältigende schöpferische Kraft und weitreichende Auswirkungen.

Es sollte uns deshalb auch nicht überraschen, dass Gottes Ruf die Geschichte nachweislich verändert und in der Welt einen Unterschied gemacht hat – sowohl was die Kultur ganzer Gesellschaften betrifft als auch in Bezug auf das Leben Einzelner. Genau diese Ehrfurcht und das Erstaunen darüber müssen wir gleich zu Beginn zurückgewinnen und erkennen, wie jeder Einzelne von uns in dieses große Bild hineinpasst, von dem wir letztendlich ein kleiner Teil sind.

Was die Welt verändert und Geschichte schreibt

Ich wurde in China geboren und wuchs in Nanjing, der ehemaligen Hauptstadt der Republik China und der mächtigen Ming Dynastie auf. Im Dezember 1937 wurde die Stadt durch das grauenhafte Massaker von Nanking fast gänzlich zerstört und nach dem Zweiten Weltkrieg von der Roten Armee bedroht. Dennoch erzählen die herrlichen Stadtmauern, die schönen Alleen und die historischen Ming Gräber noch immer etwas von der glorreichen Zeit im fünfzehnten Jahrhundert, als Nanjing die stolze Hauptstadt des reichsten und mächtigsten Imperiums der Welt war.

Mit einem Selbstbewusstsein, das durch Jahrtausende der Macht und Größe entstanden war, und ausgestattet mit einer Reihe erstaunlicher Innovationen, waren die Ming Kaiser dafür bekannt, besonders teure Unternehmungen und Forschungsreisen zu unternehmen. Sie sandten beispielsweise eine gewaltige Flotte nach Afrika, mit Schiffen, die weitaus größer und schneller waren als die unter Kolumbus. Außerdem wiesen sie eine Millionen Menschen mit dem Auftrag an, einhunderttausend Häuser der neuen Verbotenen Stadt in Beijing zu bauen. Niemand, der bei klarem Verstand war, hätte um 1500 n.Chr. geglaubt, dass China urplötzlich von einem Teil der Welt überrannt und beherrscht werden sollte, der in den Augen der Chinesen bis dahin als kulturell rückständig gegolten hatte – das westliche Europa, diese kleine felsige Spitze am gegenüberliegenden Ende des großen Asiatischen Kontinents.

Doch genau das geschah! Und mehrere Jahrhunderte später, als sich der chinesische Stolz wieder erholt und China erneut zu einer Weltmacht aufgestiegen war, stellten sich die Chinesen die Frage, wie Europa – und später der ganze Westen – es geschafft hatte, sie zu überholen und zur treibenden Kraft der modernen Welt zu werden. In seinem Buch Der Westen und der Rest der Welt, beschreibt der Historiker Niall Ferguson diese Frage in den Worten eines chinesischen Gelehrten der Sozialwissenschaften:

„Wir wurden gebeten zu untersuchen, was für die Vorrangstellung des Westens auf der ganzen Welt verantwortlich war. […] Zuerst dachten wir, es hätte an eurer gewaltigeren Kanonenmacht gelegen. Dann dachten wir, dass euer politisches System besser sei. Als nächstes konzentrierten wir uns auf euer Wirtschaftssystem. Doch in den letzten zwanzig Jahren haben wir verstanden, dass das Herz eurer Kultur in Wahrheit eure Religion ist: das Christentum! Das war der Grund, weshalb der Westen so mächtig war.“

Für all diejenigen, die diese chinesische Untersuchung mit angehört hatten, war die Schlussfolgerung zwar brillant aber nicht ganz schlüssig. Denn eine ganz wichtige Frage blieb offen. Seit dem 4. Jahrhundert n. Chr., nachdem Kaiser Theodosius Rom offiziell für christlich erklärt hatte, war der christliche Glaube in Europa vorherrschend. Warum war das westliche Europa also nicht schon früher zur Vorherrschaft aufgestiegen, sondern erst im 16. Jahrhundert und auf so rasche Weise? Die Antwort hat weniger mit dem Christentum im Allgemeinen zu tun als vielmehr mit der Reformation im Speziellen.

Durch die massive Ablehnung der im Mittelalter üblichen Korruption und anderer Verirrungen hatten Martin Luther, Johannes Calvin und weitere Reformatoren nicht nur das Evangelium, die Autorität der Heiligen Schrift und die Hervorhebung des Laientums innerhalb der Kirche wiederhergestellt, sie hatten auch vielen anderen biblischen Wahrheiten neue Geltung verschafft, die für lange Zeit in Vergessenheit geraten waren oder verzerrt dargestellt wurden.

Zu den mächtigsten Wahrheiten, die der modernen Welt zum Aufstieg verhalfen, zählen insbesondere die folgenden von den Reformatoren wertgeschätzten sechs Aspekte: die Berufung (mit ihrem Einfluss auf den Lebenssinn, die Arbeit und den Aufstieg des Kapitalismus), der Bundesgedanke (der zur Verfassung und zur verfassungsgemäßen Freiheit führte), das Gewissen (und der Aufstieg der religiösen Freiheit und der Menschenrechte), das Engagement mit den Juden (und der Umkehrung des schrecklichen Antisemitismus, der das Zeugnis der mittelalterlichen Kirche befleckt hatte), Kohärenz (sodass die Menschen versuchten, alles unter dem Herrschaftsaspekt Jesu zu betrachten) und die Korrigierbarkeit (die Haltung von semper reformanda – demPrinzip, dass wir alle jederzeit der Erneuerung und Reformation bedürfen).

Um nicht missverstanden zu werden: Diese Früchte der Reformation dürfen niemals in einer überheblichen Weise zitiert werden und kein Zweig der Kirche hat heute ein exklusives Anrecht auf diese Aspekte. Stattdessen müssen sie mit aller Sorgfalt, allen Sonnen- und Schattenseiten beschrieben werden und wir sind aufgefordert, ihre Wurzeln bis ins Alte und Neue Testament zurückzuverfolgen.

Aber es steht außer Frage, dass diese zentralen Wahrheiten einen entscheidenden Beitrag zum Aufstieg der modernen Welt geleistet haben, wenn auch mit Folgen, die für die Reformatoren sicherlich unvorhersehbar und überraschend waren. Aber kein Aspekt unter diesen sechs hatte einen so großen Einfluss wie die Wiederentdeckung der biblischen Wahrheit von Gottes Ruf und unserer Berufung, bzw. unserem Beruf.

Direkt zu Beginn müssen wir uns daher bewusst machen, dass es bei der Berufung nicht um etwas Persönliches, Spirituelles und Andächtiges geht – als handle es sich nur um deinen oder meinen individuellen Lebenssinn. Denn auch wenn die Berufung natürlich all diese Dinge beinhaltet, ist sie weit mehr als nur eine Wahrheit für dich und mich. Gott beruft uns, damit wir unseren Teil dazu beitragen, dem Unrecht dieser Welt Gerechtigkeit entgegenzusetzen, wir uns an der Erneuerung und Wiederherstellung der Erde beteiligen und wir seine Botschaft bis an die Enden der Erde tragen. Diese Tatsache verleiht unserer Berufung eine unbeschreibliche Bedeutung mit weltbewegenden Auswirkungen. Die Aufforderung dazu richtet sich an den gesamten Erdball, betrifft jede Epoche in der Menschheitsgeschichte und auch jeden Moment unseres Lebens. Deshalb können wir die göttliche Berufung niemals zu hoch schätzen.

Natürlich gehen die globalen Auswirkungen der Reformation auf eine viel ältere und weitaus beeindruckendere Berufungsgeschichte zurück. Diese Geschichte reicht sogar bis zur Schöpfung und den Anfängen der Menschheit zurück und führt uns über die göttliche Berufung Abrahams zu Gottes Vision eines neuen Lebensstils. Die göttliche Berufung zu begreifen, bedeutet deshalb nichts weniger als Gottes großen Plan zur Wiederherstellung und Erneuerung der Menschheit und der Schöpfung zu verstehen und wertzuschätzen – und das wir selbst ein Teil davon sind. Dieser Hinweis sollte genügen, um zu zeigen, dass die göttliche Berufung die Welt zu einem völlig anderen Ort macht und dem Leben eine völlig neue Ausrichtung gibt. Natürlich nur, sofern man seinen Ruf hört und bereit ist, ihm zu folgen – bis der große Tag kommt, an dem wir vom Hören zum Sehen und vom Glauben zur absoluten Erkenntnis übergehen.

Klischees und Fälschungen

Das zweite Problem, das wir direkt zu Beginn ansprechen müssen, besteht darin, dass die Berufung ihrer Bedeutung beraubt wird.

Das geschieht, indem man die Fragen nach dem Sinn des Lebens zu einem regelrechten Theater inszeniert. Die Gespräche, die heute über den Sinn des Lebens geführt werden, sind oft schillernd und bunt, doch am Ende bleibt man genauso perspektivlos und leer zurück wie davor. Jeder gilt mittlerweile als „Vordenker“, „Sinngeber“ und vertritt mit geradezu missionarischem Eifer seine Lebensphilosophie. Während früher noch der Neujahrstag für gute Vorsätze herhielt, eignet sich heute jeder Tag so gut wie der andere, um neue Vorsätze zu fassen. Es gab noch nie eine solche Flut an Büchern, Seminaren und Coaches, die uns so einfache Schritte und Möglichkeiten darboten, um in nur fünf oder zehn Minuten zielgerichteter und dynamischer zu leben. Bewaffnet mit „Leitbildern“, „inspirierenden Slogans“ und „messbaren Ergebnissen“ können wir heute ständige Erleuchtungen erleben, sie in fünfzehn-Minuten Etappen „maximieren“ und so unser Leben in „Errungenschaften“ messen und in „Vermächtnissen“ bewerten. Hinzu kommt die naive Meinung, dass wir alles wüssten oder es zumindest herausfinden könnten.

Einige Leute propagieren so begeistert ihren Sinn des Lebens, dass man meinen könnte, es handle sich dabei um eine völlig neue Entdeckung; als wären sie die allerersten Menschen in der Geschichte, die die Bedeutsamkeit des Vorausdenkens und Planens erkannt hätten. Ähnlich wie westliche Ernährungstrends findet solches Gerede großen Anklang, doch viel zu oft stellt es sich entweder als völlig realitätsfern oder sogar als großer Betrug heraus. Wie so vieles Neue, das groß im Kommen ist, versprechen diese Lebensphilosophien viel mehr als sie halten können. Würden wir uns die Zeit nehmen, um die Ergebnisse zu untersuchen, wir wären vermutlich versucht, eine Klage wegen irreführender Werbung einzureichen. Aber dafür sind wir viel zu beschäftigt – wir sitzen schon beim nächsten Buch, im nächsten Seminar, werden vom nächsten Angebot gelockt, immer wieder auf der Suche nach dem nächsten Trend.

Im Gegensatz dazu ist die göttliche Berufung kein Klischee. Sie ist eindeutig, kraftvoll, gehaltvoll und überzeugend. Und weil es Gott ist, der beruft, und sowohl der Anfang als auch das Ende der Berufung in ihm begründet sind, haben wir auch keinen Grund zu glauben, dass es dabei ausschließlich um uns ginge. Sicherlich kann die göttliche Berufung unterdrückt und missverstanden werden, aber sie darf niemals geringgeschätzt und ihrer Bedeutung beraubt werden. Denn wenn das geschieht, ist die daraus entstehende Verwirrung nur zu unserem Nachteil und wir stolpern ziellos umher, ohne den großen Zweck unseres Lebens zu kennen.

In diesem Buch geht es um eine Reihe kurzer Reflektionen über die vielfältigen Wunder der göttlichen Berufung. Dieses Thema hätte vermutlich einhundert Kapitel oder mehr verdient, denn die Wunder Gottes in der Berufung sind schier endlos. Aber das wäre selbst dann unmöglich, wenn Dante oder Shakespeare persönlich es verfasst hätten. Ich hoffe dennoch, dass du dieses Buch sorgfältig lesen und dir dabei ständig bewusst bist, dass du dich in der Gegenwart des Einen befindest, der uns alle ruft; und dass du alles Gelesene im Hinblick auf dein eigenes Leben und deine Berufung in dieser Welt überdenkst. Kein menschliches Buch, ganz gleich wie lang es ist, könnte jemals dem Wunder der Berufung gerecht werden. Dies kann allein durch Dankbarkeit, Anbetung und eine bewusste Lebensführung geschehen.

Gottes Ruf ist sein mächtiges, kostbares und zutiefst persönliches Wort an jeden von uns.

Wenn wir über Berufung schreiben und darüber lesen, dann handelt es sich dabei um schwache menschliche Worte, die über Gottes mächtiges Wort reden. Doch Gott sei Dank, es wird der Tag kommen, an dem unsere schwachen Worte nicht mehr nötig sein werden, weil wir ihn von Angesicht zu Angesicht sehen werden. Dann wird unser Hören auf ihn davon übertroffen werden, dass wir ihn selbst sehen. Dieser Moment, wenn wir den Berufenden zum ersten Mal erblicken, wird für uns unaussprechlich sein. Alle menschlichen Worte werden uns erbärmlich und schwach erscheinen wie Staub. Doch bis es so weit ist, haben wir nur diese Worte – so schwach sie auch sein mögen.

Lass uns dennoch, ungeachtet dessen, bemüht sein, die Bedeutung der folgenden drei Worte immer mehr zu erfassen und auf sie zu antworten. Denn es sind Worte, die die Welt verändert haben und es auch heute noch tun. Es sind Worte, die das Leben jedes Einzelnen von uns verändern, weit über unsere kühnsten Vorstellungen hinaus. Also höre auf die ehrfurchtgebietenden Worte Jesu Christi, die sowohl eine Aufforderung als auch eine Einladung sind und die lauten: „Folge mir nach!“


Os Guinness ist ein britischer Soziologe, Lehrer, Apologet, Redner und Autor von über 30 Büchern. Sein Buch Berufung erscheint Anfang 2023 beim Herold-Verlag.

© Herold-Verlag 2022

Ähnliche Beiträge