Ein Weg
Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind’s, die auf ihm hineingehen (Mt 7,13).
Ich bin sicher, du hast auch schon einmal Aussagen gehört oder gelesen, wie die folgende, die ich kürzlich in einem Leserbrief einer Zeitung las: „Ich kann diese Christen nicht ernst nehmen. Denn im Grunde tun sie nicht das, was Jesus ihnen befohlen hat. Sagte Jesus nicht, ‚Schlägt dich jemand auf die eine Backe, dann halte ihm auch die andere hin!‘? Aber welcher Christ tut das schon? Stattdessen verurteilen sie immer nur andere Menschen.“
Hinter solchen Aussagen steckt oft eine schmerzvolle Erfahrung. Ja, Christen sind nicht immer konsequent. In Anbetracht unseres Anspruchs, Gott mit unserem ganzen Herzen, mit unserer ganzen Seele und all unserer Kraft und unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben, ist die Realität häufig eine große Enttäuschung. Natürlich müssen wir berücksichtigen, dass die stärkste Abneigung gegen Christen weniger mit dem Versagen der Christen zu tun hat, als vielmehr mit einer generellen Abneigung gegen das Wesen des Christentums an sich – denn schließlich beansprucht wahres Christentum für sich die exklusive Wahrheit, und das ist eine Beleidigung für unser pluralistisches Zeitalter. Es ist auch kein Wunder, dass beide (der Christ und das Christentum) in den Köpfen der außenstehenden Beobachter vermischt und negative Erfahrungen mit Christen direkt auf das Christentum übertragen werden. Das führt mitunter dazu, dass selbst Christen, durch die Vorwürfe ihrer Kritiker verunsichert, selbst zu Kritikern des Christentums werden und sich die Frage stellen: Kann das Christentum wirklich der einzige Weg zum Leben sein und erhebt es wirklich diesen exklusiven Anspruch?
Ein scharfer Kontrast: Zwei Wege
Da Kritiker in den meisten Fällen die Bergpredigt als Maßstab an Christen anlegen, sollten auch wir dort beginnen. Jeder sorgfältige Beobachter der Bergpredigt wird feststellen, dass diese Predigt alles andere als einfache Schwarzweißmalerei ist. Derselbe Jesus, der sagte: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“, sagte auch: „Werft eure Perlen nicht vor die Säue“ – wobei über kurz oder lang die Frage aufkommt, wer mit dem Wort „Säue“ gemeint ist (vgl. Mt 7,1.6). Derselbe Jesus, der sagte: „Halte auch die andere Backe hin“ (Mt 5,39), beendete seine Predigt aber auch mit einigen aufrüttelnden Gegenüberstellungen (vgl. Mt 7,13-29): zwei verschiedene Pforten und Wege, zwei verschiedene Bäume, zwei unterschiedliche Ansprüche und zwei unterschiedliche Fundamente. In jeder dieser Gegenüberstellungen wird deutlich, dass es nur die eine oder die andere Möglichkeit gibt; es gibt nur zwei Wege, von denen der eine richtig ist und der andere falsch!
Zuerst spricht Jesus von zwei unterschiedlichen Pforten, die auf zwei unterschiedliche Wege führen: „Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind’s, die auf ihm hineingehen. Denn eng ist die Pforte und schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind, die ihn finden“ (Mt 7,13-14). Laut Jesus ist der Weg zu Gott kein bequemer Weg, sondern einengend und sehr unpopulär, und es sind nur wenige, die ihn finden. Jesus möchte damit bestimmt nicht sagen, dass am Ende nur eine Handvoll Menschen errettet wäre (das Buch der Offenbarung spricht von einer unzählbaren Schar!). Er möchte aber verdeutlichen, dass die Zahl der Christen weit unter der der Nichtchristen liegt, was auch nichts Ungewöhnliches ist, weil eben der Weg des Christen (in den Augen der Welt) einengend, unbequem und unbeliebt ist.
Dann spricht Jesus von zwei unterschiedlichen Bäumen: „So trägt jeder gute Baum gute Früchte; ein schlechter Baum hingegen trägt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte tragen; ebenso wenig kann ein schlechter Baum gute Früchte tragen. Jeder Baum, der keine guten Früchte trägt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen. Deshalb sage ich: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ (Mt 7,17-20). Auf den ersten Blick scheint dieses Beispiel von Jesus so einfach: ein Baum bringt gute Frucht und der andere Baum bringt schlechte Frucht. Allerdings spricht Jesus dieses Bild in einen Kontext hinein, der diese Aussage viel herausfordernder macht. In den Versen davor spricht Jesus nämlich von falschen Lehrern: „Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen! Inwendig aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ (V. 15-16).
Es ist schon schwer genug, in dieser Welt seinen Weg zu gehen, sich an die Autorität der Bibel zu halten und sie vor Angriffen zu verteidigen, bei Christus zu bleiben und die Bedeutung seines Kreuzes vor den Menschen zu verteidigen, die das alles für Schwachsinn halten und ohne christlichen Hintergrund sind. Aber es ist noch sehr viel schwieriger, dies alles innerhalb der Gemeinde zu tun! Denn hier treffen wir auf Menschen, die ein gewisses Vorverständnis von christlichen Begrifflichkeiten und christlichen Ansichten haben, die sich aber langsam von dem entfernen, was wirklich entscheidend ist, und sich zu etwas hinbewegen, das im besten Falle nebensächlich ist. In solchen Fällen überwiegt anfänglich noch die Freude darüber, dass wir in ihnen „Geschwister im HERRN“ gefunden haben. Doch sobald wir ins Detail gehen, stellen wir fest: „Da stimmt etwas nicht! Ist diese Ansicht wirklich mit der Heiligen Schrift vereinbar?“ Und plötzlich erkennen wir, dass die wirklich gefährlichen Lehrer sich nicht außerhalb der Gemeinde befinden, sondern innerhalb – und häufig sind es solche, die von vielen respektiert werden, die gebildet und angesehen sind und die auch nach außen hin durchaus fromm erscheinen. Sobald man anfängt, sie und ihre Sichtweise zu hinterfragen, sagen sie: „Aber ich bin doch ein Christ, genau wie du!“ Sind diese Menschen nicht die größte Herausforderung? Denn in vielen Fällen können wir ja nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob unsere negative Einschätzung auch wirklich gerechtfertigt ist, und wir stellen uns die Frage: Bin ich vielleicht zu engstirnig, zu konservativ, zu kritisch in meinem Urteil?
Dieses Problem ist sicherlich nicht neu in der Gemeinde Jesu. In seinem Abschiedsgespräch mit den Ältesten der Gemeinde in Ephesus warnte Paulus sie davor, dass aus ihren eigenen Reihen Männer aufstehen werden, die verkehrte Dinge reden und die Herde durcheinanderbringen (vgl. Apg 20,29-30). Und Jesus selbst sagte in der Bergpredigt: „Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen! Inwendig aber sind sie reißende Wölfe“ (Mt 7,15). Das tückische an diesen Menschen ist: Sie sehen echt aus, sie hören sich an wie echte Schafe, sie verwenden die richtigen Worte und können überzeugend argumentieren, aber hütet euch vor ihren Zähnen! In diesem Kontext spricht Jesus die Worte: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen!“
Die Schwierigkeit dabei ist, dass eine Frucht häufig sehr lange braucht um heranzureifen, doch wir möchten jetzt und hier Gewissheit. Wäre es daher nicht nett, wenn jede „christliche Bewegung“, die uns begegnet, eine Art Gütesiegel tragen würde, mit der Aufschrift „Made in Heaven!“ oder „Direkt aus der Hölle!“? Dann könnte man die eine Bewegung einfach gutheißen und die andere sofort entlarven und ungerührt weitergehen. Aber leider sieht die Realität anders aus. Tatsächlich können solche Menschen äußerlich das Prädikat „Himmlisch!“ tragen, während sie innerlich zutiefst gefährlich und zerstörerisch sind. Und so vergeht häufig eine lange Zeit, bevor die Frucht schlussendlich reif ist und ihre wahre Herkunft offenbart. Doch wie viele Generationen von jungen oder auch erfahrenen Christen werden bis dahin von diesen Irrtümern beeinflusst oder ein Leben lang geprägt?
Zwei unterschiedliche Wege, zwei unterschiedliche Bäume, und nun folgen zwei unterschiedliche Ansprüche. Einer dieser Ansprüche klingt sehr fromm und geistlich. Viele sagen zu Jesus: „Mein Herr, mein Herr!“ Aber Jesus weist darauf hin, dass nicht derjenige, der Ihn „Herr“ nennt, ins Reich Gottes eingeht, sondern derjenige, der den Willen Seines Vaters im Himmel tut! Entscheidend ist also nicht nur ein Lippenbekenntnis, sondern auch das dazu gehörige Handeln! „Viele“, sagt Jesus, „werden an jenem Tage zu mir sagen: Herr, Herr!“ Und dann rechtfertigen sie sich: „Willst du uns wirklich ablehnen? Schließlich habe ich so viel über dich gepredigt, habe prophetisch geredet, Dämonen ausgetrieben und viele Wunder vollbracht. Das habe ich alles in deinem Namen getan! Und jetzt willst du mir erzählen, dass ich nicht in dein Reich darf? Also, wenn jemand dafür qualifiziert wäre, in dein Reich zu kommen, dann doch wohl ich – ich meine, ich habe so viel für deinen Namen getan, Jesus!“ (vgl. Mt 7,22). Aber Jesus wird ihnen entgegnen: „Ich habe euch niemals gekannt. Geht weg von mir, Ihr Übeltäter“ (V. 23). Nein, der Einzige, der ins Himmelreich kommen wird, ist der, der den Willen des Vaters im Himmel tut.
Und dann folgt die letzte der vier Veranschaulichungen: zwei unterschiedliche Fundamente. Jesus erzählt eine Geschichte von zwei Männern. Der eine baut sein Haus auf einem soliden Felsen, das allen Stürmen des Lebens standhält, während der andere Mann sein Haus auf Sand baut. Als nun ein starker Sturm kommt, blieb das Haus auf dem Felsen unbeeindruckt stehen. Doch das Fundament des zweiten Hauses zerrann buchstäblich und das Haus stürzt in sich zusammen (vgl. Mt 7,24-27).
Was sollen wir nun mit all diesen Informationen anfangen? Was haben diese Beispiele mit uns zu tun? Warum fordert Jesus uns hier auf, zwischen einer schmalen und einer breiten Pforte, zwischen einem schmalen und einem breiten Weg zu wählen? Warum sollte es keinen Zwischenweg geben, der nicht ganz so schmal und eng, aber auch nicht ganz so weit und relativistisch ist? Oder was ist mit den Bäumen? Warum muss es entweder ein guter Baum mit guten Früchten oder ein schlechter Baum mit schlechten Früchten sein und nicht irgendwas dazwischen – ein Baum, der noch ganz in Ordnung ist? Wäre das nicht viel annehmbarer für uns? „Ja Herr, ich weiß, dass einiges von dem, was ich getan habe, ziemlich widersprüchlich erscheinen mag, das ist doch jeder von uns ein bisschen. Kommt es letztendlich nicht darauf an, dass wir in deinem Namen gepredigt und all diese guten Dinge getan haben? Zugegeben, ich habe einige Sünden begangen, aber was ist mit der Tatsache, dass ich auch ziemlich oft an gewissen Grundsätzen festgehalten habe?“ Ist dies nicht die logische Alternative zwischen Felsen und Sand – ein etwas festerer Lehm?
Ja, aber …
Wenn wir die Beispiele Jesu in diesem Abschnitt für realitätsfern halten, dann sollten wir darauf achten, dass die Bibel diesen Kontrast an vielen anderen Stellen sogar noch deutlicher hervorhebt; und zwar mit einem bestimmten Ziel: Je mehr wir uns im alltäglichen Leben diese Gegensätzlichkeiten bewusstmachen, desto aufmerksamer und vorsichtiger handeln wir.
Ich möchte einige Beispiele aus dem Alten Testament nennen. In 5. Mose 30,19 heißt es: „Ich rufe heute den Himmel und die Erde als Zeugen gegen euch auf: Das Leben und den Tod habe ich dir vorgelegt, den Segen und den Fluch! So wähle das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen.“ Oder nehmen wir Psalm 1, den sogenannten „Weisheitspsalm“:
„Glücklich der Mann, der nicht folgt dem Rat der Gottlosen, den Weg der Sünder nicht betritt und nicht im Kreis der Spötter sitzt, sondern seine Lust hat am Gesetz des HERRN und über sein Gesetz sinnt Tag und Nacht! Er ist wie ein Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und dessen Laub nicht verwelkt; alles was er tut, gelingt ihm“ (Ps 1,1-3).
Hier wird uns der positive Aspekt genannt, auf den in Vers 4 der negative Gegensatz folgt: „Aber so sind die Gottlosen nicht!“ Alles, was hier grundsätzlich über den Gerechten ausgesagt wird, wird in Bezug auf den Gottlosen verneint. Lehnt der Gerechte den Rat der Gottlosen ab? Ja, aber so sind die Gottlosen nicht! Vermeidet der Gerechte einen sündigen Lebensstil? Ja, aber so sind die Gottlosen nicht! Geht der Gerechte Spöttern aus dem Weg? Ja, aber so sind die Gottlosen nicht! Liebt der Gerechte das Wort Gottes, hat er Verlangen danach und denkt er Tag und Nacht darüber nach? Ja, aber so sind die Gottlosen nicht! Sind die Gerechten wie ein Baum, dessen Wurzeln mit dem lebendigen Wasser verbunden sind und weist dessen reiche Frucht ihn als lebendigen, guten Baum aus? Ja, aber so sind die Gottlosen nicht!
Nun, wie sind die Gottlosen dann? Sie sind wie Spreu, die der Wind verstreut – leblos, fruchtlos, wurzellos, haltlos, bedeutungslos – also im völligen Gegensatz zu dem lebendigen und fruchtbringenden Baum. Und dieser Psalm endet dann schließlich auch mit einer letzten, endgültigen Gegenüberstellung: „Denn der HERR kennt den Weg der Gerechten; aber der Gottlosen Weg vergeht“ (V. 6).
Der Kontrast zwischen dem Gerechten und dem Gottlosen könnte schärfer nicht sein! Doch wer diesen Psalm aufmerksam liest und die Heilige Schrift gut kennt, wird zustimmen und sagen: „Ja, das ist das Prinzip der Bibel. Gottes Wort wiederholt dieses Prinzip unzählige Male. Aber zeigen uns die Lebensgeschichten der biblischen Männer und Frauen nicht, dass dieser Kontrast im echten Leben gar nicht so scharf ist? Trifft es nicht vielmehr zu, dass alle Menschen mehr oder weniger gute und schlechte Früchte hervorbringen? Ertappen wir die Gläubigen nicht auch häufig dabei, dass sie einen Mittelweg gehen und eine Alternative zwischen Fels und Sand wählen? Wie war es zum Beispiel mit David? Er war ein Mann nach dem Herzen Gottes, fromm und gottesfürchtig, aber doch beging er Ehebruch und Mord! Oder denken wir an Abraham. Er wurde „ein Freund Gottes“ genannt und ist der größte Patriarch der Geschichte. Das Neue Testament nennt ihn sogar „Vater des Glaubens“, was ihn zum Archetypen der Gläubigen macht. Und doch sehen wir, dass auch er log. Und betrachten wir den Rest der Patriarchen. Der eine schläft mit seiner Schwiegertochter, der andere mit der Geliebten seines Vaters. Zehn von ihnen verkaufen ihren Bruder in die Sklaverei, nachdem sie kurz zuvor noch überlegt hatten, ihn umzubringen. Und das sind Gottes Patriarchen?!
Oder gehen wir ins Neue Testament. Dort begegnet uns Petrus. Jesus sagte zu ihm: „Glückselig bist du, Simon, Sohn Jonas; denn Fleisch und Blut haben es dir nicht offenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist. Aber auch ich sage dir: Du bist Petrus, und auf diesem Felsen werde ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen“ (Mt 16,17-18). Und unmittelbar danach versucht Petrus, dem Herrn Jesus zu verbieten, am Kreuz zu sterben! Doch er setzt noch einen drauf: Obwohl Jesus ihn bereits vorgewarnt hatte, schwört Petrus wenige Tage später, Jesus niemals gekannt zu haben und verleugnet Ihn. Doch selbst nach Pfingsten hat Petrus noch nicht ausgelernt und wird von Paulus in Antiochia zurechtgewiesen, nachdem er eine Trennung zwischen den Judenchristen und den Heidenchristen provoziert hatte (vgl. Gal 2,11-14).
Wenn wir all das zusammennehmen, gibt es dann wirklich nur zwei Wege zum Leben? „Moment mal“, könnte jemand einwenden, „sollten wir nicht besser von einer gewissen Grauzone sprechen?“ Denn ja, auch Gläubige sind manchmal gut und manchmal schlecht. Sehen wir das in unserem eigenen Leben nicht bestätigt? Warum also dieser krasse Gegensatz in der Bibel? Warum schlägt auch Jesus in dieselbe Kerbe und unterscheidet hier so scharf?
Schauen wir genauer hin
Wir sollten einen genaueren Blick auf die Gegensätze werfen, von denen Jesus in der Bergpredigt spricht. Zum einen sollten wir auf die Struktur der Bergpredigt achten und zum anderen auf ihren roten Faden. Mein Vater brachte mir schon früh bei, auf den Zusammenhang (oder Kontext) eines Textes zu achten, da man sonst sehr leicht die eigentliche Aussage des Textes missverstehen kann.
Die Bergpredigt erstreckt sich über drei Kapitel (Matthäus 5-7) und der Hauptteil dieser Predigt beginnt in Kapitel 5,17 und endet in Kapitel 7,12. Dieser Hauptteil der Bergpredigt wird von zwei sich ergänzenden Aussagen Jesu eingerahmt – wie eine Art Klammer, die Jesus öffnet, indem Er ankündigt, worum es gleich gehen wird, und die Er schließt, indem Er darauf hinweist, worum es letztendlich ging.
Jesus beginnt seine Hauptaussage mit den Worten: „Meint nicht, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen“ (Mt 5,17). Und Er beendet den Hauptteil mit der Schlussfolgerung: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Denn darin besteht das Gesetz und die Propheten!“ (Mt 7,12). Zwischen diesen beiden sich ergänzenden Aussagen hat Jesus eine Menge über das Königreich Gottes zu sagen. Doch diese Einrahmung weist seine Hörer (und uns Leser) darauf hin, dass die Bergpredigt Jesu in direktem Zusammenhang mit dem Gesetz und den Propheten steht. Im Grunde geht es in der Bergpredigt um folgendes: Jesus kündigt das Himmelreich an und beschreibt es als die Erfüllung des Gesetzes und der Propheten.
Doch bevor Jesus richtig in das Thema einsteigt, formuliert Er die Seligpreisungen als eine Art „Norm“ dieses Himmelreiches, wie die erste Seligpreisung deutlich zeigt: „Glückselig die Armen im Geist, denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt 5,3). Und auch die letzte Seligpreisung macht dies deutlich: „Glückselig die um Gerechtigkeit willen Verfolgten, denn ihrer ist das Himmelreich“ (V. 10). Hier finden wir also eine weitere Einklammerung, die uns zeigt, dass es Jesus bei den Seligpreisungen und bei dem, was auf sie folgt, um Gottes Himmelreich geht. Es geht darum, wie dieses Himmelreich ist, wie sich die Bürger dieses Reiches verhalten. Und wir werden auch davor gewarnt, dass diejenigen, die nach der Norm des Himmelreichs leben, Verfolgung erleiden werden (V. 11-12). Wir sind daher aufgefordert, im Einklang mit den Seligpreisungen zu leben – als Salz und Licht in dieser finsteren und gefallenen Welt (V. 13-16).
Die Seligpreisungen bilden eine Einführung in die Bergpredigt, in der Jesus erklärt, was das Himmelreich ist, was es tut und in welcher Weise es die alttestamentlichen Erwartungen erfüllt. Doch gegen Ende der Bergpredigt begegnen uns die Gegenüberstellungen, die wir soeben betrachtet haben: 1. Zwei unterschiedliche Lebenswege – den breiten oder den schmalen; 2. das Hervorbringen von guten oder schlechten Früchten; 3. ob unser Bekenntnis sich durch leere Worte als falsch entlarvt oder ob es sich durch Gehorsam als echt erweist; und 4. ob wir unser Lebenswerk auf Felsen oder auf Sand bauen.
Nun folgt aber die logische Frage: Wie können wir diesem Anspruch jemals gerecht werden? Um hierauf eine befriedigende Antwort zu finden, möchte ich, dass wir die Bergpredigt im Kontext des gesamten Matthäusevangeliums betrachten. Das Matthäusevangelium kann, wie die anderen vier Evangelien auch, als Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung angesehen werden. Jeder der vier biblischen Evangelienberichte erzählt Ereignisse aus dem öffentlichen Wirken Jesu, während Er dem Kreuz und seiner Auferstehung entgegengeht. Sie beinhalten also die Gute Botschaft Jesu auf dem Weg zum Kreuz.
Und diese Gute Botschaft lautet: Jesus Christus kam, um Sünder durch seinen Tod und seine Auferstehung zu erretten – und zwar nicht nur vom Fluch der Sünde, sondern auch von ihrer Macht. Das heißt, Jesus hat uns davon befreit, mit aller Macht gegen Gott rebellieren zu wollen. All die sündigen Gewohnheiten und Handlungen und den Selbstbetrug, all die verdorbene Vergötterung anderer Dinge und die Verdammnis und Versklavung, der wir aufgrund unserer Sünde ausgesetzt waren, hat Jesus von uns genommen. Doch wir wurden nicht dadurch errettet, dass wir bestimmte Weisheiten erlernt haben, wir wurden vielmehr errettet, weil Jesus unser König ist, der mit seiner mächtigen Herrschaftsgewalt das Böse in dieser Welt zunichte macht und eines Tages eine erneuerte, vollkommene Welt der Gerechtigkeit aufrichten wird. Wir sind errettet, weil Er der Hohepriester ist, der als vollkommener Mittler zwischen dem heiligen Gott und uns sündigen Geschöpfen steht. Wir sind errettet, weil Er der Prophet ist, der uns das Wort Gottes bringt, ja der das Wort Gottes in Person ist. Er kam, um das Königreich Gottes aufzurichten, und in der Bergpredigt klärt Er uns über die Merkmale dieses Reiches auf: es ist ohne Hass, ohne Gier, ohne Betrug und ohne Lüge. Der Grund, weshalb Jesus in der Bergpredigt so sehr die Normen seines Königreiches betont, ist der, dass Er dieses Reich bereits errichtet hat.
Alle, die Jesus Christus nachfolgen – denen ihre Sünden durch Sein Blut vergeben wurde und die durch Ihn innerlich erneuert wurden –, sollen diese Eigenschaften des Reiches vorweisen. Sie sind die Norm und bilden gemeinsam die Ethik des Königreiches Gottes.
So gibt es letztendlich nur zwei Wege – den Weg des Königreiches oder den Weg des Todes. Und doch sind wir nicht in der Lage uns selbst zu erretten, indem wir die Anforderungen der Bergpredigt erfüllen. Darum haben Christen auch immer wieder festgestellt, dass die Bergpredigt uns einerseits sagt, wie wir leben sollen, und uns doch andererseits vor Augen führt, dass wir diesem Anspruch niemals gerecht werden können. Dies führt uns zur Selbstprüfung und offenbart unsere Unfähigkeit und unsere Doppelmoral. Ja, du sollst nicht die Ehe brechen – und vermutlich würden wir dies sogar schaffen … wenn Jesus nicht gesagt hätte, dass bereits der begehrliche Blick und der lustvolle Gedanke darunter fallen. Und plötzlich möchten wir am liebsten vor Scham im Boden versinken. Du sollst nicht töten – so weit so gut; die meisten von uns haben es vermutlich geschafft, in diesem Punkt sauber zu bleiben … wenn Jesus nicht gesagt hätte, dass bereits boshafte Gedanken dazu gehören. Und wieder steigt uns die Schamesröte ins Gesicht. Dann kommt Jesus zum Ende seiner Ausführungen und sagt uns: „Es gibt nur zwei Wege: der eine ist der richtige und führt zum Leben, der andere ist der falsche und führt in den Tod.“ Die vier Gegenüberstellungen, die dann folgen, rauben uns jeden letzten Funken Selbstsicherheit.
Und jetzt möchte ich eine kurze Frage stellen: Was wäre, wenn das Matthäusevangelium nach Kapitel 7 enden würde? Dann hätten wir ein ziemlich großes Problem, oder? Wie gut, dass Jesu Königreich aus mehr besteht als nur aus einer Reihe moralischer Instruktionen. „Denn das Reich Gottes besteht nicht im Wort, sondern in Kraft“ (1.Kor 4,20) – eine lebensverändernde Kraft, die den Seinen aus dem Tod und der Auferstehung Jesu zufließt. Deshalb werden die ersten Christen in der Apostelgeschichte auch mehrmals als jene bezeichnet, die „dem Weg folgen“ oder die „des Weges sind“ (vgl. Apg 9,2; 18,25; 24,14). Dadurch wurde verdeutlicht, dass sie dem nachfolgten, der von sich selbst sagte: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater als nur durch mich“ (Joh 14,6). Uns muss klar sein, dass wir diesen Weg zum Leben niemals aus eigener Kraft, durch eigene Gerechtigkeit und mit eigener Ausdauer gehen können. Es gibt einen „Weg“ zum Leben, dem wir unbedingt folgen müssen, und dieser Weg ist niemand anderer als Jesus! Darum schreibt der Apostel Petrus auch nach Jesu Tod, Auferstehung und Verherrlichung, dass in keinem anderen Menschen Erlösung zu finden ist, und uns kein anderer Name unter dem Himmel gegeben wurde, durch den wir errettet werden (vgl. Apg 4,12).
Die Bergpredigt stellt uns deshalb vor eine extreme Herausforderung, die in Jesu Aussage am Ende von Kapitel 5 gipfelt: „Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (V. 48). Wenn dies der Maßstab ist, dann bin ich erledigt! Wenn Jesu Botschaft hier endet, habe ich keinen Grund mehr zu hoffen. Doch dies ist nicht das Ende! Denn wenig später sagt Jesus: „Nicht die Starken brauchen einen Arzt, sondern die Kranken … ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder“ (Mt 9,12-13). Und dann ging Er an das Kreuz.
Weißt du, welches Buch im Neuen Testament dieses Dilemma – den Gegensatz zwischen Gottes Aufforderung zur Vollkommenheit und der Tatsache, dass wir diese Vollkommenheit niemals erreichen können – am intensivsten behandelt? Es ist der 1. Johannesbrief! Johannes beginnt seinen Brief mit einigen einführenden Sätzen und geht dann dazu über, seine Leser mit überaus deutlichen Worten zu warnen (wohlgemerkt: er schreibt hier an gläubige Christen!): „Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“, und: „Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn (Gott) zum Lügner“ (1,8.10). Johannes sagt uns, dass wir nicht dadurch dem Dilemma entkommen, dass wir unsere Sünden und Unvollkommenheiten leugnen; nein, der Ausweg lautet: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von jeder Ungerechtigkeit“ (1,9). Das ist die Lösung des Problems! Johannes ermutigt uns, indem er uns daran erinnert, dass wir „einen Anwalt haben, der beim Vater für uns eintritt: Jesus Christus, den Gerechten! Er ist die Sühnung für unsere Sünden“ (1.Joh 2,1-2).
Allerdings darf diese Tatsache nicht missverstanden werden. Denn wer glaubt, die Freiheit und die Gnade, die uns durch das Evangelium zukommen, seien ein Freifahrtschein zum Sündigen, „der“, so sagt uns Johannes, „ist ein Lügner, und in dem ist nicht die Wahrheit“ (2,4). Denn wer nicht bereit ist, Christus zu gehorchen und Seine Herrschaft anzuerkennen, der zeigt, dass er nicht zu Christus gehört. Ja, vielmehr noch: Wer seinen Bruder und seine Schwester in Christus nicht liebt, der zeigt, dass er nicht zu Christus gehört (vgl. 2,9). Und so wird der Wortlaut von Johannes immer strenger und strenger, bis er den fast schon schockierenden Satz schreibt: „Jeder, der aus Gott geboren ist, tut nicht Sünde, denn Gottes Same bleibt in ihm“ (3,9). Ein Christ wird nicht auf Dauer in der Sünde bleiben, in der Sünde leben, sich der Sünde hingeben, weil er aus Gott geboren ist. Hier bleibt nur die resignierende Feststellung: Dieser hohe moralische Anspruch, den Johannes hier äußert, scheint mich und viele andere Christen auszuschließen!
Was also sollen wir tun? Was sollen wir mit einer solchen Aussage anfangen? Beachten wir zunächst einmal, dass diese Aussage in einem Brief steht, der schon mit dem Zugeständnis beginnt: „Wenn wir sagen, wir sündigen nicht, so betrügen wir uns selbst!“ Denn in diesem Fall ist es hilfreich, zu beachten, dass die Worte „nicht tun“ nicht immer von einer ontologischen Unmöglichkeit sprechen – also nicht immer sagen, dass eine Sache völlig unmöglich ist –, sondern dass sie uns in manchen Fällen bewusst machen sollen, dass etwas moralisch unerlässlich ist.
Ich möchte das mit einem Beispiel verdeutlichen. Während meiner Schulzeit hatten wir einen Lehrer, der während des Zweiten Weltkriegs in der kanadischen Armee gedient hatte. Sein Name war Mr. Cooper. Manchmal hatten wir das Gefühl, Mr. Cooper wünschte sich, noch immer in der Armee zu sein – und wir wünschten uns das ehrlich gesagt auch. Er war kein begnadeter Lehrer. Er war der Meinung, dass seine Schüler wie Soldaten auf seine Befehle reagieren sollten. Ich denke, die Schulzeit war weder für ihn noch für uns sehr einfach.
Wenn es etwas gab, das Mr. Cooper wirklich verabscheute, dann war es das Kaugummikauen. Sobald er jemanden dabei erwischte, nahm er den Mülleimer, stampfe auf den Verbrecher zu, hielt ihm den Eimer unter die Nase, und rief in lautem Befehlston: „Spuck es aus! In meinem Unterricht wird kein Kaugummi gekaut!“
Was wäre gewesen, wenn ich in diesem Moment meinen Finger gehoben hätte, um Mr. Cooper darauf aufmerksam zu machen: „Mr. Cooper, es tut mir leid, aber ontologisch ist ihre Aussage falsch, denn wir haben ja gerade gesehen, dass hier doch Kaugummi gekaut wird.“
Ich denke, jedem ist klar, dass Mr. Cooper nicht von einer ontologischen Unmöglichkeit sprach, sondern von einem moralischen Gebot. Die Worte: „Hier wird kein Kaugummi gekaut!“ bedeuten in diesem Zusammenhang: „Es ist nicht erlaubt, in meinem Unterricht Kaugummi zu kauen! Und falls du es doch tust, bekommst du riesigen Ärger!“
Genau das ist es, was uns die Bibel sagen will. Es gibt einen richtigen Weg und einen falschen Weg, einen klugen Weg und einen törichten Weg, einen göttlichen Weg und einen gottlosen Weg, einen schmalen Weg und einen breiten Weg. Die Bibel benutzt hier zwei absolut entgegengesetzte Dinge, um etwas Entscheidendes zu verdeutlichen: Es ist nicht erlaubt zu sündigen! Hier wird nicht gesündigt! Keine Sünde ist zu entschuldigen, und deshalb sündigst du nicht! Jetzt wäre es völlig unsinnig zu sagen: „Nun, ontologisch gesehen ist die letzte Aussage falsch, denn ich sündige.“ Auch Johannes hat zu Beginn seines Briefes festgestellt, dass jeder Christ sündigt.
Doch Gott sei Dank: Jesus Christus starb für Sünder! Er trug unsere Sünden an seinem eigenen Leib ans Kreuz. Sein Opfer stillte den gerechten Zorn Gottes, und Er bleibt in Ewigkeit unser Anwalt und unser Hohepriester. Er hat uns mit seinem Geist versiegelt und Ihn uns als Angeld unseres ewigen Erbes verliehen. Und auch wenn wir noch nicht in der vollkommenen Herrlichkeit angekommen sind – dem neuen Himmel und der neuen Erde, in der wir ganz sicher niemals mehr sündigen werden –, so wird doch schon heute Jesu Volk aufgefordert: „Ihr dürft nicht sündigen! Hier wird nicht gesündigt!“ Und wenn wir armen, schwachen Geschöpfe doch sündigen, dann haben wir einen Ort, an den wir zurückkehren dürfen, um Vergebung und Hoffnung zu finden: das Kreuz Jesu Christi! Also brauchen wir einerseits sehr dringend diese absoluten Gegensätze, um nicht leichtfertig mit der Sünde umzugehen, und andererseits brauchen wir auch die ungeschönten Berichte der biblischen Personen, die uns daran erinnern, dass Gott reich an Gnade und Barmherzigkeit ist. Doch zu keinem Zeitpunkt wird seine Heiligkeit und Gerechtigkeit dadurch gemindert, dass Er arme Sünder annimmt. Denn auch für diesen scheinbaren Wiederspruch gibt es nur eine Lösung: das Kreuz Jesu, nur das, und nicht weniger!
Ein Weg: Jesus Christus
Wir werden also immer wieder zum Kreuz Jesu zurückgeführt:
Da ich denn nichts bringen kann,
schmieg‘ ich an Dein Kreuz mich an;
nackt und bloß, o kleid mich doch!
Hilflos, ach erbarm Dich noch!
Unrein, Herr, flieh‘ ich zu Dir!
Wasche mich, sonst sterb‘ ich hier!
Zusammenfassend möchte ich dir sagen: Wenn dich diese Gegensätzlichkeiten in der Heiligen Schrift daran erinnern, dass es nur zwei Lebenswege gibt, dann mache dir bewusst, dass nur der eine Weg zu Gott führt. Dieser Weg ist der Weg der Gerechtigkeit; doch weil wir noch immer Sünder sind, ist der einzige Weg, um als Sünder auf diesem Weg der Gerechtigkeit zu Gott zu kommen, der Eine, der von sich selbst sagte: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater als nur durch mich“ (Joh 14,6). Allein Christus ist der Weg!