Der letzte Ruf
Es gab Zeiten, in denen es als ein hohes Ideal galt, „gut zu sterben“. Wie zum Beispiel Michelangelo, dem man im Alter von 88 Jahren eine Ehrenmedaille prägte, deren eine Seite sein Profil zierte und auf der anderen ein blinder Pilger mit einem Stock und seinem Hund abgebildete war, mit der Inschrift aus Psalm 51: „Ich will die Übertreter deine Wege lehren, dass sich die Sünder zu dir bekehren.“ Michelangelo hatte selbst diesen Psalm gewählt und wünschte sich, als alter, gebrechlicher Mann dargestellt zu werden, der sich aber dem Willen Gottes unterordnet.
Eine solche Einstellung ist heutzutage selten geworden. Und das nicht nur deshalb, weil man heute kaum noch über den Tod spricht. Aus teils offensichtlichen Gründen wie eine höhere Lebenserwartung und dadurch eine größere Zahl alter Menschen in unseren Familien, durch stark erweiterte Möglichkeiten und Dienstleistungen, die älteren Menschen geboten werden, liegt bei uns jetzt der Schwerpunkt darauf, möglichst lange ein angenehmes Leben zu führen, anstatt gut zu sterben. Das Problem ist, dass für viele Menschen die sogenannten „goldenen Jahre“ sich als gar nicht so großartig herausstellen. Deshalb ist die Tatsache unserer Berufung für unser Ende genauso wichtig wie für unseren Anfang. Zu wissen, dass wir berufen sind und wozu wir berufen sind, hilft uns dabei, gut ans Ende zu gelangen, weil es uns eine Antwort auf die drei größten Herausforderungen unserer letzten Lebensjahre gibt.
Erstens ist unsere Berufung ein Ansporn für uns, bis zum Ende zielgerichtet zu leben und fortwährend zu wachsen und zu reifen. Es gibt in dieser Welt zwei sehr häufig auftretende Irrtümer über das Leben und den Glauben. Der erste Irrtum besteht darin, dass manche Menschen schon sehr früh so reden, als seien sie bereits am Ziel angekommen. Sie betonen zwar die Sicherheiten und Triumphe des Glaubens, ignorieren aber die Herausforderungen, Rückschläge und Tragödien auf diesem Weg. Oft reden und leben sie so, als hätten sie nichts mehr zu lernen, als wären alle Fragen für sie schon beantwortet, alle Rätsel gelöst, alle Hoffnungen bereits erfüllt, alles steht für sie von vornherein fest – und sie reduzieren den ganzen Sinn der Lebensreise nur auf das Ende. Für sie gibt es scheinbar keinerlei Gefahren, Prüfungen, Risiken oder Katastrophen mehr – so scheint es zumindest, wenn man ihnen zuhört.
Auf der anderen Seite gibt es dann diejenigen – und meist handelt es sich um sehr gebildete Leute –, die sich um diese eine Reise so große Gedanken machen, dass gar keine Gedanken an das Ziel verschwenden und die Reise ihr ganzes Leben ausmacht. Für sie ist es unvorstellbar, irgendwann einmal an einem Ziel anzukommen, und der größte Fauxpas ist in ihren Augen der Anspruch, einen sicheren Weg gefunden zu haben oder zu einer abschließenden Erkenntnis gelangt zu sein. In ihren Augen sind schon Fragen, Erkundigungen, Suchen und Erobern das Ziel an sich. Heute nennt man dies Pluralität.
Nun gibt es ein außerordentlich gutes Gleichgewicht zwischen diesen beiden Extremen: den christlichen Glauben. Wir, die wir dem Ruf Gottes folgen, sind Nachfolger Christi, „Nachfolger auf dem Weg“. Daher befinden wir uns auf einer Reise, mit allen damit verbundenen Kosten, Risiken und Gefahren. Niemals in diesem Leben können wir sagen, wir seien angekommen. Aber wir wissen, warum wir unsere ursprüngliche Heimat verlassen haben und, was noch wichtiger ist, wir kennen das Ziel, die Heimat, der wir jetzt entgegengehen. Darum sind wir als Nachfolger Christi auch Pilger, und obwohl wir den Weg bereits gefunden haben, sind wir doch noch nicht am Ziel angekommen. Wir können vielleicht unsere Arbeit aufgeben, aber nicht unsere Berufung. Wir können uns von unseren öffentlichen Verpflichtungen zurückziehen, aber nicht von unserer allgemeinen Berufung als Volk Gottes. Wir dürfen Punkte erreichen, an denen wir auf das Ende der Straße blicken, doch was viel wichtiger ist: Wir richten unseren Blick ganz fest auf den Einen, der am Ende der Straße ist: unser himmlischer Vater, der zugleich auch unser Ziel ist.
Zweitens hilft uns unsere Berufung dabei, gut bis ans Ende zu kommen, indem sie uns zeigt, dass das Ende unserer Mühen nicht das Ende unserer Berufungen ist. Wenn wir unsere Berufung nur auf das reduzieren, was wir tun, dann werden wir – sobald uns diese bestimmte Aufgabe genommen wird – uns plötzlich nutzlos, sinnlos oder überflüssig vorkommen – das wiederum führt zu Depression oder Zweifel. Warum? Weil wir unsere Beschäftigung so eng mit unserer Berufung verknüpft haben, dass wir den Verlust unserer Beschäftigung auch für den Verlust unserer Berufung halten.
Pablos Picasso sagte einmal zu einem Freund: „Wenn ein Mann zum Meister seines Fachs wird, dann hört er auf, ein Mann zu sein, sobald er sich zur Ruhe setzt.“ Diese Einstellung Picassos führte dazu, dass er ein rastloser Künstler war, dessen Talent für ihn zum Götzen wurde. Er war geradezu an die Malerei versklavt. Jede leere Leinwand war für ihn eine Herausforderung an seine Kreativität. Wie ein Süchtiger machte er die Arbeit zur Quelle seiner Befriedigung, nur um dann festzustellen, dass er vollkommen unzufrieden war. „Ich habe nur einen Gedanken: meine Arbeit“, sagte er gegen Ende seines Lebens, als weder seine Familie noch seine Freunde ihm helfen konnten zu entspannen. „Ich male wie ich atme. Wenn ich arbeite, entspanne ich; nichts zu tun oder Gäste zu unterhalten ermüdet mich.“ Bei William Wilberforce erkennt man eine völlig andere Haltung. Er war berufen, nicht getrieben. Auf seinem Sterbebett im Juni 1833 erfuhr er noch von dem großen Sieg der Abschaffung der Sklaverei im ganzen Britischen Weltreich. Drei Tage später starb er. „Es ist unglaublich“, sagte Thomas Fowell Buxton, der Wilberforces Bemühungen um die Abschaffung der Sklaverei übernommen und fortgesetzt hatte, „dass an dem Abend, an dem wir im Unterhaus das Gesetz zur Befreiung der Sklaven erfolgreich verabschiedet hatten, … sich die Seele unseres lieben Freundes aus dieser Welt verabschiedete. Der Tag, an dem sein Einsatz zum Erfolg führte, war der Tag, an dem sein Leben endete.“
Nur wenige Menschen dürfen erleben, dass ihre „Arbeit“ und ihr „Leben“ zur gleichen Zeit enden. In einer von Sünde verdorbenen und zerbrochenen Welt geht unser Leben meist schon zu Ende, bevor unsere Aufgaben erledigt sind, oder unsere Aufgaben werden uns genommen, lange bevor unser Leben zu Ende ist. Deshalb ist es wichtig, zu wissen, dass der Sinn unserer Berufung tiefer, weiter, höher und länger reicht als unsere besten und größten Aufgaben.
John Cottons berühmteste Predigt zeigt wunderbar, wie wichtig die Berufung angesichts des Todes ist. „Der Glaube schenkt uns den Mut, unsere Berufung abzugeben – in Gottes Hand und in die Verantwortung von Menschen. Immer dann, wenn Gott einen Menschen dazu aufruft, seine Berufung niederzulegen, weil seine Zeit vollendet ist, wird besonders deutlich, wie der Glaube die Kinder Gottes von den Kindern dieser Welt unterscheidet. Ein Mensch ohne Gott ist oft beschämt und fürchtet sich, wenn seine Berufung von ihm genommen wird; wenn aber ein Christ seine Berufung abgibt, dann tut er dies im tiefen Vertrauen gegenüber Gott.“
Als Nachfolger Christi sind wir dazu berufen, etwas Bestimmtes zu sein, und dann erst werden wir dazu berufen, etwas zu tun. Unsere Berufung zum Sein und zum Tun wird erst dann ganz erfüllt sein, wenn Er uns am Ende zu sich ruft. Darum sollte die Berufung niemals der Karriere nur vorausgehen, sondern sie auch überdauern. Beschäftigungen gehen zu Ende, Berufungen enden jedoch nie. Wir können uns aus unserer Arbeit zurückziehen aber niemals aus unserer Berufung. Es mag Zeiten geben, in denen wir arbeitslos sind, aber als Christen sind wir niemals ohne Berufung.
Doch die wichtigste Wahrheit lautet, dass der letzte Ruf des Todes nur aus weltlicher Sicht ein Ende ist; für Kinder Gottes ist er die Krönung des Lebens. Nach einer lebenslangen Reise kommen wir endlich zu Hause an. Nach all den Jahren, in denen wir Gottes Stimme nur hörten, dürfen wir nun sein Angesicht sehen und in seine Arme kommen. Der, der uns zu sich ruft, ist unser Vater, und der letzte Ruf ist der Ruf nach Hause. Doch bis zu diesem Tag besteht unsere Verantwortung darin, weiterzumachen. Um es mit den Worten Sir Francis Drakes zu sagen: „Oh Herr, mein Gott, wenn du es deinen Dienern ermöglichst, etwas Großes zu versuchen, dann gewähre uns auch, dass dies nicht nur der Anfang ist, sondern es bis zum Ende Bestand hat, bis es wirklich vollendet ist und zu wahrer Herrlichkeit führt; durch Ihn, der sein Leben gab, um deinen Willen zu erfüllen, unseren Erlöser, Jesus Christus.“
Drittens hilft uns unsere Berufung, ein gutes Ende zu finden, weil sie uns ermutigt, das gesamte Urteil über unser Leben Gott zu überlassen. In seinem Meisterwerk „Vom rechten Glauben“ schrieb G.K. Chesterton: „Auf die Frage ‚Was bist du?‘ kann ich nur antworten: ‚Gott weiß es!‘“ Eine solche Zurückhaltung ist heutzutage leider selten. Völlig unbekümmert und von sich selbst überzeugt, ohne zu bemerken, welche Arroganz dahinter steckt, redet der moderne Mensch davon, dass er „zu sich selbst findet“, indem er seine Berufung in einem einzigen Satz zusammenfasst und von seinen Lebensleistungen prahlt, als wären es Güter, die man auf einen kleinen Bollerwagen packen und vor Gott bringen könnte, um so Gottes Anerkennung als Sahnehaube auf all die eigenen stolzen Errungenschaften zu setzen.
Anderen hingegen leiden darunter, dass sie ihre eigene Bedeutung aus sich selbst und ihren Leistungen ziehen und am Leben erhalten müssen. Sie neigen dadurch oft ins andere Extrem – Mühseligkeit und Verzweiflung. In seiner Autobiographie blickte der Schriftsteller Van Wyck Brooks auf sein Leben zurück und zog die Schlussfolgerung, dass all seine Bemühungen in eine Welt gesät wurden, in denen sie nicht wachsen konnten – ja, nicht einmal eine Furche blieb zurück. Er war der Meinung, er hätte „das Meer gepflügt“. Der große irische Dichter W.B. Yeats schrieb in seinen Memoiren: „Mein ganzes Leben, wenn es in die Waagschale gelegt, erscheint mir eine Vorbereitung auf etwas zu sein, das niemals geschieht.“
Aber sowohl der arrogante moderne Mensch als auch der verzweifelte übersehen, dass Gott hier den entscheidenden Unterschied macht. Sie vergessen, dass unsere Bedeutung sowohl von unserer Berufung als auch von unserer Identität vor Gott abhängt. Gott ruft uns, doch so wie wir Ihn zwar hören aber auf dieser Erde noch nicht sehen, wachsen wir im Glauben an Ihn, um so das zu werden, wozu Er uns berufen hat; doch wozu Er uns berufen hat, werden wir letztendlich erst im Himmel sehen.
Vielleicht sind Sie noch immer enttäuscht von dieser Kluft, die zwischen Ihrem persönlichen Lebensziel und dem aktuellen Status besteht. Vielleicht sind Sie auch niedergeschlagen angesichts all der Kompromisse, Fehlschläge, Sünden und des Versagens, mit denen Ihr Leben verunreinigt ist. Sie haben Ihr Urteil über Ihr eigenes Leben vielleicht schon gefällt. Und auch andere haben vielleicht ihr Urteil gefällt. Doch urteilen Sie nicht, bis die Geschichte zu Ende geschrieben ist und Sie gesehen haben, wie Gottes Urteil lautet und Er Sie zu dem gemacht hat, wozu Er Sie berufen hat.
Denken Sie gut darüber nach, damit, wenn Gottes letzter Ruf zu jedem von uns kommt, wir alle seinem Ruf gefolgt, seinen Weg gegangen und gut das Ziel erreicht haben. Dann wird es uns gehen, wie Herrn „Wahrheitskämpfer“ in John Bunyans „Pilgerreise“:
„Einige Zeit später ging die Kunde um, Herr Wahrheitskämpfer habe von demselben Boten wie die anderen seinen Ruf erhalten, und als Zeichen für die Wahrheit der Botschaft habe man ihm gesagt: ‚Der Eimer zerschellt an der Quelle‘. Als er die Nachricht verstanden hatte, rief er nach seinen Freunden und erzählte ihnen davon. Dann sagte er: ‚Ich gehe zu meinen Vätern, und obwohl ich unter großen Schwierigkeiten hierher gekommen bin, gereut mich doch nun all die Mühe nicht, die ich auf mich genommen habe, um da anzukommen, wo ich jetzt bin. Mein Schwert gebe ich dem, der mir auf meiner Pilgerreise nachfolgt, und meinen Mut und mein Geschick dem, der sie sich erwerben kann. Meine Narben und Wunden nehme ich mit mir, damit sie für mich bezeugen, dass ich für den Herrn gekämpft habe, der mir jetzt meinen Lohn geben wird‘. Als der Tag, da er fortgehen musste, gekommen war, begleiteten viele ihn bis zum Flussufer. Während er ins Wasser stieg, sagte er: ‚Tod, wo ist dein Stachel?‘ Und während er tiefer hineinwatete, fügte er hinzu: ‚Hölle, wo ist dein Sieg?‘ So gelangte er hinüber, und auf der anderen Seite erklangen die Posaunen für ihn.“
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch „Berufung“ von Os Guinness, das wir als Herold-Verlag neu herausgeben werden.