Jochen Klepper – Gott ist größer als unser Herz
Jochen Klepper, ein deutscher Dichter, Schriftsteller und Kirchenliederdichter des 20. Jahrhunderts, hat mich auf besondere Weise geprägt: Inmitten politischer und gesellschaftlicher Umwälzungen seiner Zeit, insbesondere während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland, vermitteln seine Texte tiefe biblische Einsichten und betrachten alltägliche menschliche Erfahrungen im Licht des Evangeliums. Teilweise werden seine Lieder mit Melodien, die erst nach seinem Tod entstanden sind, bis heute gesungen. Aber wer war dieser Mann eigentlich?
Das Leben von Jochen Klepper – ein Schriftsteller im Dienst von Jesus Christus
Um Kleppers geistliche Lieder angemessen zu verstehen, ist es wichtig, seinen Lebensweg und die prägenden Einflüsse zu betrachten, die sein Werk beeinflusst haben: Geboren wurde er 1903 in ein liberal-christliches Elternhaus, der Vater war Pfarrer. Jochen Klepper wuchs in einer Zeit auf, die von Krisen und Umbrüchen wie dem Ersten Weltkrieg und der umkämpften Weimarer Republik geprägt war. Sein Studium der Germanistik, Geschichte und Theologie ebnete den Weg für eine literarische Karriere, die von einem tiefen persönlichen Glauben und dem Streben nach Wahrheit geprägt war – Pastor wollte er nicht werden, sondern viel lieber Schriftsteller und Journalist.
1931 heiratete er (standesamtlich) die 13 Jahre ältere Witwe Johanna Stein, die er seit 1929 kannte: Sie war eine weltoffene und gebildete Frau und Jüdin, konnte aber sowohl mit dem Gottesdienst in der Synagoge als auch dem christlichen Evangelium nichts anfangen. Johanna fand erst über die nächsten Jahre zum Glauben an Jesus. Im Jahr 1931 zog zuerst Jochen, 1932 dann seine Frau und die beiden Töchter von Breslau nach Berlin.
Mit dem Jahr 1937 wurde Klepper Bestsellerautor: Sein Roman Der Vater wurde von der Wehrmacht zur Pflichtlektüre für alle Offiziere erklärt und verkaufte sich trotz der Veröffentlichung in zwei Bänden und einem verhältnismäßig hohen Preis erstaunlich gut. Er hatte ab Herbst 1933 daran gearbeitet. Seine Erzählung handelt von Friedrich dem Großen, einem gottesfürchtigen König von Preußen. Darin präsentiert er den Monarchen als tiefgläubigen Landesvater, der in allem zuerst nach dem Willen Gottes fragt und so Staat und Gesellschaft positiv prägt.
Man muss kein Literaturwissenschaftler oder Historiker sein, um den gesellschaftlichen Sprengstoff des Buchs richtig einordnen zu können: Friedrich stellt mit seinem persönlichen Leben und Regierungsstil, die in seinem Glauben wurzeln, einen kritischen Gegenentwurf zur Schreckensherrschaft Adolf Hitlers und der NSDAP dar. Dennoch nahmen gesellschaftlich konservative Kreise und die NS-Führung das Buch gut auf. Sie lasen es als Lob auf Preußen, in dessen Tradition sie sich teilweise sahen. Doch wie kam es dann dazu, dass im Verlauf der 1930er Jahre die private Situation Kleppers immer schwieriger wurde?
Diese Tragik war nicht in erster Linie darin begründet, dass er Christ war oder den Nationalsozialismus offener als andere ablehnte. Stattdessen wurde er schikaniert, weil seine Ehefrau und die beiden Töchter, die sie mit in die Ehe brachte, jüdischer Abstammung waren: Zwar hatte seine Frau sich inzwischen auf ihren Glauben hin taufen lassen. Doch das Verständnis davon, wer Jude ist, wurde vonseiten der NS-Ideologie nicht theologisch, sondern von der Abstammung her verstanden. Da Klepper sich nicht scheiden ließ, wurde er 1937 kurz nach dem Erschienen von Der Vater mit Schreibverbot und dem Ausschluss aus der „Reichschrifttumskammer“1 belegt. Das war faktisch der berufliche Todesstoß für ihn. Der Verkaufserlös seines Bestsellers sicherte der Familie jedoch ihre finanzielle Existenz.
Im Jahr 1938 konnte Klepper dann dank einer Ausnahmeregelung doch noch sein vielleicht wirkmächtigstes Buch Kyrie – Geistliche Lieder2 veröffentlichen: Darin finden sich verschiedene Lieder zu Tages- und Jahreszeiten, aber auch zu Lebensabschnitten (Weihnachten, Ostern, Himmelfahrt, Geburtstag, Alter, …). Es spiegelt viel wider vom „inneren Exil“, in dem Klepper leben musste und in dem nur Gott allein sein Trost war.
1939 musste die Familie innerhalb Berlins umziehen, um Platz zu machen für die sogenannte Welthauptstadt Germania, das Bauprojekt der Nationalsozialisten zur Umgestaltung Berlins. Von Dezember 1940 bis Oktober 1941 diente Jochen Klepper in der Wehrmacht, wurde jedoch aufgrund seiner Ehe mit Johanna als „wehrunwürdig“ entlassen.
Bis 1942 verschärfte sich die Lage der Familie Klepper weiter: Zwar konnte die ältere Tochter Brigitte kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Deutschland verlassen. Dasselbe versuchten Jochen und Johanna Klepper auch für die jüngere Tochter Renate zu erreichen, was allerdings 1942 scheiterte. Ihre Deportation und die der Mutter standen bevor. Keinen Ausweg mehr sehend, nahmen sich die drei in der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember 1942 durch Schlaftabletten und Gas miteinander das Leben.
Dass wir so genau von Jochen Klepper Bescheid wissen, verdanken wir dem Umstand, dass er selbst sehr akribisch Tagebuch geführt hat. Diese wurden nach dem Krieg von seiner Schwester mit dem Titel Unter dem Schatten deiner Flügel – Aus den Tagebüchern der Jahre 1932-19423 herausgegeben. Immer wieder finden sich darin Gedichte und geistliche Reime. Neben den Tagebüchern Viktor Klemperers4 sind sie die eindrücklichste Dokumentation des Alltagslebens eines Einzelnen aus dieser Zeit. Jochen Klepper ringt in seinem Tagebuch ehrlich mit der Liebe, Gegenwart und Vorsehung Gottes – es lohnt sich, diese Einträge zu lesen!
Die Lieder von Jochen Klepper – Theologie aus der Bibel für das echte Leben
Kleppers Theologie und Lieder sind tief verwurzelt in persönlichem Gebet, der Suche nach Gemeinschaft mit Gott und stark von biblischen Bezügen geprägt. Er sieht seine Dichtung nicht nur als Kunstform, sondern vor allem als ein Mittel, seinen persönlichen Glauben in Worte zu fassen und Gott zu verherrlichen. Theologisch durchziehen folgende Themen seine Lieder und Bücher:
1. Das Evangelium – ein christuszentrierter Glaube
„Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht“
Das zentrale Thema in Kleppers Liedern ist die Person und das Werk von Jesus Christus: In Liedern wie Die Nacht ist vorgedrungen drückt er die Hoffnung auf das Kommen des „hellen Morgensterns“ aus, der Jesus ist (vgl. 2Petr 1,9; Offb 22,16). Klepper thematisiert oft die Dunkel- und damit einhergehende Verlorenheit der Menschen. Dabei ist für ihn klar, dass wahren Trost nur das glaubende Vertrauen auf Christus bietet.
Diese Kontraste – Licht und Dunkelheit, Hoffnung und Verzweiflung – sind grundlegend für das Verständnis seiner theologischen Perspektive. Dabei sind das Dunkle, die Sünde und die Menschen allerdings keine ebenbürtigen Konkurrenten oder Gegner Gottes: In Christus hat Gott bereits alles für die Gläubigen getan und gesiegt. An seiner Person hängt deshalb das ganze Evangelium.
2. Die Bibel – Quelle der Anbetung
„In welchen Nöten ich mich fand, du hast dein starkes Wort gesandt“
Jochen Kleppers Lieder nehmen oft gerade von der ersten Liedzeile an einen Bibelvers oder biblischen Gedanken zum Ausgangspunkt und wenden ihn dann praktisch auf das Leben des Gläubigen an. Damit
Sie enthält nicht einfach Informationen über Gott, sondern soll, gesungen und gebetet, zum Leben in der Nachfolge anleiten und ermutigen (siehe den nächsten Abschnitt). So ist zum Beispiel jedem Lied in Kyrie ein Bibelvers- oder abschnitt vorangestellt, auf den es sich bezieht. Normalerweise ist dann das ganze Lied durchtränkt von biblischer Sprache.
3. Nachfolge – Christsein in den Gegebenheiten und Herausforderungen dieser Welt
„Der sich den Erdkreis baute, der lässt den Sünder nicht. Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht“.
Der Blick Kleppers auf das Leben war von Realismus geprägt: Blinder Optimismus und zorniger Pessimismus waren ihm fremd. Klepper sah sich dazu berufen, in dieser Zeit und Gesellschaft für Jesus zu leben und gegebenenfalls auch zu leiden. Vielleicht hat er gerade darum verschiedene Lieder zu Tages- und Jahreszeiten, aber auch zu Lebensabschnitten geschrieben.
In seinen Tagebucheinträgen finden sich ab 1932 in der für seine späteren Lieder typischen Weise immer häufiger Bibelworte, die er auf die aktuelle gesellschaftliche Situation und Entwicklung bezog. Er rang damit, wie er in einer seinen Erlöser offen ablehnenden Gesellschaft dem Evangelium gemäß leben sollte. Darin kann er uns ein großes Vorbild sein.
4. Jesus – der Herr und Erlöser, der mit uns leidet
„Sieh nicht an, was du selber bist in deiner Schuld und Schwäche. Sieh den an, der gekommen ist, damit er für dich spreche“.
Ein weiterer wichtiger Aspekt von Kleppers Theologie ist der mit uns leidende Christus: In schweren Zeiten und angesichts des menschlichen Leids in der Welt sieht Klepper den gekreuzigten Christus als Tröster und Begleiter. Das spiegelt sich in seinen Texten wider, die wie Psalmen oft Klage und Anbetung miteinander verbinden. Ein bekanntes Beispiel ist sein Lied Mein Gott, warum hast du mich verlassen?, in dem er die Verzweiflung des menschlichen Lebens in direkte Verbindung zu Jesu eigenen Worten am Kreuz bringt (vgl. Ps 22; Mk 15,34).
5. Gottes Vorsehung – tragfähige Hoffnung für persönliches Vertrauen
„Ich weiß, dass auch der Tag, der kommt, mir deine Nähe kündet und dass sich alles, was mir frommt, in deinen Ratschluss findet“
Kleppers Lieder sind durchzogen von einer tiefen Sicherheit, die über das gegenwärtige Leben hinausgeht: Seine Überzeugung ist, dass Gott trotz widriger Umstände immer gegenwärtig ist und seine Kinder in ihrer Einsamkeit und Not nicht verlässt. Dem nationalsozialistischen Schicksalsglauben steht sein Vertrauen auf die gütige Vorsehung Gottes entgegen. Diese Hoffnung auf Gottes endgültigen Sieg und auf Erlösung ist ein wesentlicher Bestandteil seiner Lieder.
Die Zweifel von Jochen Klepper – ein schwacher Mann, getragen von einem starken Gott
Irgendwie hat eine Frage bei mir ein mulmiges Gefühl ausgelöst: Kann man einen Artikel über jemanden schreiben, der sich das Leben genommen hat? Der in seinen letzten Tagen doch so offensichtlich an der bewahrenden Gnade und Macht Gottes gezweifelt hat? Der keinen anderen Ausweg mehr sehen konnte, als sein Leben und das seiner Frau und Tochter selbst zu beenden?
Ich persönlich denke, dass das Leid Kleppers unendlich groß war (er musste damit rechnen, dass seine Tochter demnächst in ein Lager deportiert würde, er sich von seiner Frau scheiden lassen musste und auch sie dasselbe grausame Schicksal wie die Tochter ereilen würde): Menschlich gesehen konnte er an diesen Umständen nichts ändern. Jochen Klepper sehnte sich nur noch nach Frieden und Ruhe bei Jesus. Sein letzter Tagebucheintrag spiegelt genau dieses Sehnen wider:
„Nachmittags die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst. Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott – wir gehen heute Nacht gemeinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben“.
Kleppers tragischer Tod macht uns deutlich: Christen leben nicht im Vertrauen auf ihren starken Glauben, sondern im Vertrauen auf einen starken Erlöser. Darum ist der Bibelvers auch so passend, den man auf einem Gedenkstein für ihn lesen kann: „Gott ist größer als unser Herz“ (1Joh 3,20). Denn manchmal leiden Gottes Kinder so sehr, dass ihre Kraft und ihr Wille zum Weiterleben zu Ende kommen. Umso heller scheint in dieser Dunkelheit Kleppers Gewissheit, auch im Tod nicht von Jesus aufgegeben und verlassen zu sein – selbst, wenn es sich für uns so anfühlt.
Die Bedeutung und das Erbe von Jochen Klepper – ein Dichter im Dennoch5
Wäre Jochen Kleppers Nachlass nicht teilweise veröffentlich worden und seine Lieder nicht in verschiedene Gesangbücher aufgenommen worden, dann wäre sein Tod vermutlich eher unbeachtet geblieben. Was bleibt also von diesem Mann und seinem Glauben an Jesus? Meines Erachtens kann man von Jochen Kleppers Vorbild zwei Dinge lernen:
- Gott mutet seinen Kindern manchmal sehr großes Leid zu: Es kann durchaus sein, dass es unsere seelische Kraft übersteigt, solchen Schmerz auszuhalten. Jochen Kleppers Suizid ist ein bedrückendes Beispiel dafür. Aber gerade im dunklen Leid von Gottes Kindern leuchtet das „Dennoch“ von Gottes Treue und Gnade auf. Klepper war auf eine Weise fähig und bereit zu leiden, die mich persönlich beschämt und uns Gottes Treue groß macht.
- Klepper sah den geistlichen Hintergrund des Nationalsozialismus sehr klar: Eine Ideologie, in der das Evangelium von Jesus Christus keinen Platz hatte. Eine Vorstellung von einer Gesellschaft, in der manche Menschen „sündiger“ sind als andere. Eine „Erlösung“, die nicht von Gott, sondern vom Menschen ausging. Eine „Gemeinde“, in der kein Platz für Christen mit jüdischen Vorfahren war.6 Viele andere Christen haben damals dieses falsche Evangelium geglaubt oder hielten es zumindest für vereinbar mit dem Glauben an Jesus. Für Jochen Klepper war aber der Gehorsam gegenüber Gott maßgebend. Nicht, weil er aktiv Widerstand geleistet hätte, sondern bereits durch sein konsequentes Leben in der Nachfolge Jesu kam er zunehmend unter die Räder. Denn er sah sich nicht als politischen Widerständler, sondern als Christ. Sein Auftrag lautete, ein Zeuge Jesu zu sein. Er war ein „Dichter im Dennoch“.
Wer dem Evangelium glaubt, wird in dieser Welt und Gesellschaft keinen bleibenden Platz finden (Hebr 13,14). Darum sollten wir nicht in politischen Lösungsansätzen oder gar menschenverachtenden Ideologien die Antwort auf die Veränderung und Erlösung der Menschheit suchen, sondern sie allein von Jesus Christus erwarten. Jochen Klepper hat uns das eindrücklich vorgelebt.
Fußnoten
- Anmerkung: Die Organisation, in der man Mitglied sein musste, um zur Zeit der NS-Herrschaft veröffentlichen zu dürfen. ↩︎
- Kyrie. Geistliche Lieder, 25. Aufl., Bielefeld 2020. ↩︎
- Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932-1942, Gießen 2002. ↩︎
- Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945, Berlin 1999 ↩︎
- Formulierung angelehnt an den Titel der Klepper-Biografie Rudolf Wentorfs (Jochen Klepper. Ein Dichter im Dennoch; Zeugen des gegenwärtigen Gottes 165/166, Gießen 1964). ↩︎
- Dass der Nationalsozialismus religiöse (und dem biblischen Evangelium gegenüber feindliche) Züge trug, zeigen u.a. Auseinandersetzungen mit Hitlers Gottesbild (Thomas Schirrmacher, Hitlers Kriegsreligion. Die Verankerung der Weltanschauung Hitlers in seiner religiösen Begrifflichkeit und seinem Gottesbild, 2 Bde., Bonn 2007) und zeitgenössische Antworten auf dessen weltanschaulichen Anspruch (z.B. Walter Künneth, Antwort auf den Mythus. Die Entscheidung zwischen dem nordischen Mythus und dem biblischen Christus, Berlin 1935). ↩︎