Die Trennung von Kirche und Staat
Heute kennen wir eine strikte Trennung von Kirche und Staat. Das war in Europa jedoch nicht immer der Fall. Nick Needham erklärt, wie es zur Trennung von Kirche und Staat kam.
Im 11. Jahrhundert wurde das westliche Europa durch den sogenannten Investiturstreit in seinen Grundfesten erschüttert. Es erlebte Könige, die sich vor Päpsten demütigten; Päpste, die von Königen vertrieben wurden; Kriege zwischen Armeen, Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Kirche und schlussendlich ein neues Europa.
Ein theologischer Disput
Im Zentrum des Streites brodelte ein theologischer Disput. Um diesen zu verstehen müssen wir noch einen Schritt weiter in die Geschichte zurückgehen, bis hin zur Entstehung des Feudalismus. Der Zerfall des Römischen Reiches im Westen, angefangen im 5. Jahrhundert, brachte eine neue soziale Landschaft hervor, bei der Landbesitz wichtiger war als Geld oder politische Ämter. Mächtige Herren vergaben Lehen an weniger mächtige Leute, die im Gegenzug ihrem Lehnsherrn die Treue schworen. Das lateinische Wort für „Lehen“ [geliehenes Land] ist feudum – daher die Bezeichnung Feudalismus. An der Spitze dieser Kette von „Land und Loyalität“ standen der König und seine Adligen. Am anderen Ende standen die Bauern. Die Mittelschicht bestand aus geringerem Adel und Rittern.
Diese neuartige soziale Struktur hatte einen umwälzenden Einfluss auf die Kirche. Ein Landbesitzer baute beispielsweise auf eigene Kosten eine lokale Kirche oder ein Kloster. Jetzt lag es im Ermessen dieses Landesherrn, ob das Land und der Grundbesitz (beispielsweise ein Herrenhaus) dem Klerus gehörte oder nicht. Vermutlich sah der Landesherr es als seine Pflicht an zu entscheiden, wer als Priester, Bischof oder Abt das örtliche kirchliche Eigentum verwalten sollte.
Der Feudalismus beseitigte daher die alte Tradition, dass die Geistlichen von den Gemeindemitgliedern gewählt wurden und der Bischof wiederum durch die Geistlichen und die Gemeindemitglieder. Wenn der oberste feudale Herrscher, der König – der natürlich ein Laie war – den Mann seiner Wahl zum Bischof oder Abt bestimmte oder „investierte“, dann nannte man dies eine „Laien-Investitur“. Dafür gab es eine bestimmte Zeremonie, bei der der König dem Bischof oder dem Abt seinen Ring und Stab verlieh, die beiden Symbole des geistlichen Amtes. Der Bischof oder Abt schwor daraufhin dem König und seinen Herren die Treue.
Das Wiedererstarken des Papsttums
Nicht alle waren jedoch mit einer feudalistischen Kirche glücklich. In der Mitte des 11. Jahrhunderts begann das Papsttum seine Integrität und Macht nach einer langen, düsteren Periode der Korruption und Schwäche wiederzuerlangen. Mit einem starken Rückhalt vonseiten der Kirche gelang es einer Reihe von Päpsten das Papsttum wieder zu einer gefürchteten Instanz zu machen. Der führende Kopf dieser Reformbewegung war ein Toskaner von niederer Geburt mit Namen Hildebrand.
Nachdem er geschickt unter mehreren Päpsten dieser neuen Reformbewegung gedient hatte, wurde er selbst im Jahre 1073 von der Bevölkerung zum Papst gewählt. Er nahm den Namen Gregor VII. an. Seine Reformbewegung ist entweder als die „hildebrandische“ oder „gregorianische Reform bekannt.
Hildebrand betrachtete das Leben in militärischen Begriffen, als einen tobenden Konflikt zwischen Licht und Dunkelheit. Die Hauptakteure der Dunkelheit waren demnach die säkularen Herrscher – die Grafen, Herzöge, Prinzen und Könige. Sie waren nichts anderes als glorifizierte Schläger, die die Armen unterdrückten und die Erde mit Ungerechtigkeit erfüllten. Um Gerechtigkeit herbeizuführen mussten die Akteure des Lichts – die Kirche, angeführt vom Papst – die Kontrolle über diese bösen Herrscher übernehmen und sie dazu zwingen, der Sache Gottes zu dienen.
Hildebrands negative Sicht des Königtums war ein radikaler Bruch mit der früheren mittelalterlichen Tradition, die im christlichen König die größte Hoffnung für die Errichtung einer Gesellschaft mit christlichen Werten sah. In Hildebrands Denken war jedoch der Papst selbst, nicht der christliche König, Gottes Mittler, durch den sein Königreich auf Erden aufgerichtet wurde.
Als Papst war Hildebrand entschlossen, die Macht zu zerstören, die der Feudalismus den weltlichen Herrschern über die Kirche gegeben hatte. Der Punkt an dem Hildebrand seinen Schlag ausführen wollte, war die Laien-Investitur. Insbesondere wandte er sich gegen die Zeremonie, bei welcher der König dem Bischof oder Abt seinen Ring und Stab verlieh. Denn dies implizierte, dass die Bischöfe und Äbte ihre geistliche Autorität dem König verdankten – was tatsächlich der Vorstellung der westlichen Könige entsprach.
Der Machtkampf beginnt
Im Jahre 1075 erließ Hildebrand das Dekret, dass der Heilige Römische Kaiser, Heinrich IV. (1065-1105), von der Laien-Investitur ablassen müsse. Hildebrand wählte sich den Kaiser aus, weil dieser der mächtigste der westlichen Monarchen war und von sich behauptete, die Autorität des neugeborenen Römischen Reiches zu repräsentieren (im Grunde genommen bezog sich sein Gebiet nur auf Deutschland). Hildebrand wusste, dass wenn er Heinrich besiegen würde, er jeden besiegen konnte.
Als Hildebrand Heinrich herausforderte, unterstützen die deutschen Bischöfe zunächst den Kaiser. Sie folgten der Tradition, die im König die Mitte einer christlichen Gesellschaft sah. Davon ermutigt berief der Kaiser im Januar 1076 ein Konzil in Worms ein. Die meisten Bischöfe stimmten mit Heinrich überein und wiesen die Forderungen Hildebrands zurück. Vom Konzil aus sandte Hildebrand einen faszinierenden Brief an Hildebrand:
Ich, Heinrich, König durch Gottes Gnaden, mitsamt all meinen Bischöfen, sage zu dir – komm herunter, komm herunter von deinem päpstlichen Thron, und sei verdammt für alle Zeiten!
Hildebrands Erwiderung war wie ein Blitzschlag. Er exkommunizierte Heinrich und befreite alle seine Untertanen von ihrem feudalistischen Treueid ihm gegenüber. Die deutschen Bischöfe waren schockiert. Nun, um ihre eigenen Besitztümer besorgt, verweigerten sie jede weitere Kooperation mit Heinrich. Mit einem Schlag verlor dieser zwei-drittel seiner Armee, die sich durch Ländereien der Kirche finanzierte. Heinrichs deutsche Adligen nutzen ebenfalls die Gelegenheit zur Revolte. Sie luden Hildebrand zu einem weiteren Konzil ein, damit dieser den Vorsitz bei einer Neuwahl des Kaisers übernahm.
Der Triumph der Kirche über den Staat
Heinrich war verzweifelt. Mit einigen loyalen Unterstützern reiste er ins nördliche Italien, um Hildebrand an der Canossa Burg zu treffen. Hildebrand hatte dort Zuflucht gefunden, beschützt von seiner wohlhabenden Freundin, der Gräfin von Toskana, da er einen militärischen Vergeltungsschlag Heinrichs befürchtete. Im Januar 1077 stand Heinrich drei Tage lang barfuß vor dem Burgtor im Schnee und schrie zu Hildebrand, dass er bußfertig sei. In der Burg legte Hugo der Große, Abt von Cluny, für Heinrich vor Hildebrand Fürsprache ein. Hugo war eine wichtige Person innerhalb der Kirche und genauso wie Hildebrand gegen die Laien-Investitur. Allerdings vertrat er eine moderate Position, und wünschte sich eine freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat.
Drei Tage lang zögerte der Papst, doch schließlich erlaubte er Heinrich die Burg zu betreten. Weinend versprach der Kaiser von der Laien-Investitur abzusehen. Hildebrand nahm ihn wieder in die Kirche auf. Von einem Standpunkt aus gesehen war dies das ultimative Beispiel dafür, wie die Kirche über den Staat triumphierte: der Heilige Römische Kaiser, oberster Herrscher über die westliche Welt, lag zu Füßen des Papstes.
Hildebrands Vergebung stellte Heinrichs Macht in Deutschland wieder her, weil er seine Armee aus den Kirchenbeständen zurückerhielt. Doch der Bürgerkrieg brach aus. Heinrichs Feinde unter den Adligen wählten Rudolf von Schwaben zum Kaiser. Sowohl Heinrich als auch Rudolf baten Hildebrand um Unterstützung. Hildebrand schwankte drei Jahre lang zwischen den beiden her, während der Krieg wütete. Schlussendlich, provoziert durch eine überhebliche Forderung Heinrichs an Hildebrand, Rudolf zu exkommunizieren, schlug sich der Papst auf Rudolfs Seite und exkommunizierte Heinrich im März 1080 erneut.
Der Konflikt geht weiter
Dieses Mal jedoch hielten die deutschen Bischöfe treu zu Heinrich. Sie erkannten Rudolfs Anspruch auf den Thron nicht an und sahen in Heinrich die einzige Hoffnung für Stabilität in Deutschland. Im Juni berief Heinrich ein Konzil ein, das Hildebrand absetzte. Im Oktober gewann Heinrich den Krieg, als Rudolf im Kampf getötet wurde. Der siegreiche Kaiser eroberte daraufhin Italien und im Jahr 1084 sogar Rom selbst. Hier setzte er den Erzbischof von Ravenna auf den päpstlichen Thron, als Papst Klemens III. Anschließend krönte Klemens Heinrich zum Kaiser. Hildebrand ging nach Salerna, Italien, ins Exil, wo er 1085 starb. Seine berühmten letzten Worte waren: „Ich habe Gerechtigkeit geliebt und Ungerechtigkeit gehasst; daher sterbe ich im Exil.“
Für einige Zeit gab es zwei rivalisierende Päpste, einer in Rom, gewählt von Heinrich, der andere im Exil, gewählt von Reformern, die Hildebrands Ideal treu blieben – Papst Urban II. (1088-99). Letztendlich verdrängte Urban seinen kirchlichen Rivalen.
Der Investiturstreit ging unvermindert weiter. Urbans Nachfolger, Paschalis II. (1099-1118) verfolgte so leidenschaftlich die Unabhängigkeit der Kirche von dem Staat, dass er 1110 dem neuen Kaiser, Heinrich V., ein erstaunliches Angebot unterbreitete. Wenn Heinrich aufhören würde, so zu tun, als könnte er die Bischöfe mit geistlicher Autorität ausstatten, würde Paschalis alle Kirchenbesitztümer in Deutschland dem Kaiser übergeben. Die Bischöfe würden in schlichter Armut leben.
Dieses Angebot gefiel den meisten deutschen Bischöfen nicht und Paschalis musste es zurückziehen. Die Unterscheidung zwischen den geistlichen und weltlichen Aspekten der Investitur durch Paschalis war jedoch der Schlüssel zur Beilegung der Kontroverse im Jahr 1122. In diesem Jahr einigten sich in Worms Papst Calixt II. und Heinrich V. auf zwei Punkte:
Solch ein Kompromiss hätte Hildebrand enttäuscht, aber es sicherte der Kirche mehr Freiheit als sie unter dem Feudalismus genossen hatte. Es versetzte der Vorstellung einen vernichtenden Schlag, dass Bischöfe ihr geistliches Amt dem König verdankten.
Ein Fazit
Der Investiturstreit lehrt uns, sorgfältig zwischen Kirche und Staat zu unterscheiden. Diese Unterscheidung zu treffen kann mit vielen Problemen verbunden sein. Wir begrüßen es, dass das mittelalterliche Papsttum auf der Unabhängigkeit der Kirche beharrte. Aber um diese Unabhängigkeit zu sichern, schwang das Papsttum oftmals ins andere Extrem um, indem es wünschte, den Staat zu kontrollieren. Es ist viel Weisheit nötig, wenn wir unterscheiden wollen wann es richtig ist dem Kaiser das Seine zu geben und wann Gott (vgl. Mk 12,17). Möge Gott uns diese Weisheit heute schenken.
© Ligonier Ministries @ Tabletalk Magazine. Die Wiedergabe erfolgte mit freundlicher Genehmigung.