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Jesus, Freund der Sünder

Sage mir, mit wem Du umgehst, so sage ich Dir, wer du bist. Weiß ich, womit Du dich beschäftigst, so weiß ich, was aus Dir werden kann.“ Diese Worte von Wolfgang von Goethe bringen etwas auf den Punkt, was vermutlich jeder von uns so, oder so ähnlich denkt. Es ist ein Prinzip, das alle fürsorglichen Eltern kennen, und das wir auch in der biblischen Weisheitsliteratur finden. In Sprüche 1,10 lesen wir: „Wenn dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht.“ So steht es zumindest in der Lutherbibel. Die Elberfelder sagt ganz nüchtern: „Gib dich nicht mit Sündern ab.“ Warum? Weil sie irgendwann an ihrer eigenen Sorglosigkeit zugrunde gehen, und mit ihnen alle, die ihnen folgen (vgl. Spr 1,32).
Ich erinnere mich noch an meine Kindheit. Ich war ein ziemlicher Rotzlöffel (noch dazu Pastorensohn!) und es gab tatsächlich Kinder in meiner Grundschulklasse, die nicht mit mir spielen durften, ganz einfach, weil ich so furchtbar frech war. Ihre Eltern befürchteten, dass ich ihre Kinder schlecht beeinflussen könnte. Und damit hatten sie vermutlich auch recht. Mir tut es noch heute um meine Eltern leid, die sehr darunter gelitten haben und viel für mich beteten. Vermutlich waren es ähnliche Befürchtungen, die den Pharisäern und Schriftgelehrten vor Augen standen, als sie zu Jesu Jüngern kamen, um sie zu fragen: „Warum isst und trinkt euer Herr mit den Zöllnern und Sündern?“ Eine berechtigte Frage also! Wenn jemand das Gute liebt, warum gibt er sich mit schlechten Menschen ab?

Die Vorgeschichte in Kapernaum

Diese Frage der Pharisäer wird zeitlich relativ zu Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu gestellt, und wir finden sie immer im Zusammenhang mit der Geschichte der Berufung Levis (auch Matthäus genannt, der Evangelist; vgl. Mt 9,9). Interessanterweise haben wir hier, in diesem Kapitel die erste Begegnung zwischen Jesus und den Pharisäern. Vermutlich wussten sie also zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau, wofür Jesus stand und zu welcher Gruppe er sich zählen würde. Bisher war so viel bekannt, sodass ihm „eine große Menge“ nachfolgte, die er über Gottes Reich belehrte, und dass er Wunder vollbrachte. Daher waren nun einige Pharisäer und Schriftgelehrte „aus jedem Dorf von Galiläa und Judäa und aus Jerusalem gekommen“, um ihn zu sehen (Lk 5,17; vgl. Mt 9,11; Mk 2,16).
Und was sahen sie? Jesus war gerade erst nach Kapernaum zurückgekehrt, dem Zuhause von Petrus, Andreas und Johannes, nachdem er die Gegend für eine kurze Zeit verlassen musste. Er war wegen seiner Wunder zu populär geworden. Hätte man Jesus gefragt, ob ihm seine Bekanntheit denn nicht zugutekäme, hätte er sicher geantwortet: Ich bin gekommen, um die Menschen zu retten, nicht nur, um sie körperlich zu heilen; „es ist besser für dich, dass du lahm oder verkrüppelt zum Leben eingehst, als dass du zwei Hände oder zwei Füße hast und wirst in das ewige Feuer geworfen“ (Mt 18,8).
Bisher war es ein ereignisreicher Tag gewesen. Erst vor wenigen Stunden hatte Jesus in Anwesenheit einer großen Menschenmenge einen Gelähmten geheilt, indem er ihm einfach den Befehl gab: „Steh auf, nimm dein Bett und geh!“ Viel aufsehenerregender war aber, was Jesus vor dieser Heilung zu dem Gelähmten gesagt hatte. Er hatte ihn von all seinen Sünden freigesprochen. „Deine Sünden sind dir vergeben“, hatte Jesus gesagt. Vielleicht erstaunt uns das nicht, weil wir uns schon so sehr daran gewöhnt haben, uns leichtfertig zu entschuldigen oder Vergebung als etwas Selbstverständliches zu nehmen. Doch den anwesenden Theologen war bei diesen Worten der Blutdruck in die Höhe geschnellt. Sündenvergebung war einzig und allein Gott vorbehalten; schließlich hatte er den Israeliten ein gesamtes Opfersystem gegeben, durch das sie die Vergebung empfangen konnten. Und jetzt kam dieser junge Mann daher und spricht mir nichts, dir nichts einen Menschen von seinen Sünden frei? Das ging für sie zu weit. Das Problem war, dass Jesus dann, sozusagen als Bestätigung, den Gelähmten von seiner körperlichen Krankheit heilte. So etwas hatten sie noch nie erlebt; das kannten sie höchstens aus den Erzählungen des Alten Testaments. Für die geistlichen Führer stellte sich die Frage, ob Gott so jemandem wirklich die Macht verleihen würde, Menschen zu heilen, oder ob Jesus am Ende mit dem Teufel im Bunde stand?
Für viele andere war dieses Ereignis ein Beweis dafür, dass Jesus wirklich der ist, der er zu sein behauptete. Ist er wirklich der Sohn Gottes? Ja, das ist er! Kann er wirklich Sünden vergeben? Ja, das kann er! Er ist der ewige Retter und König, „der Menschensohn“, der mit göttlicher Macht und Autorität kommt und Gottes Reich aufbaut. Deshalb bleibt bis heute für uns die Frage bestehen: Wie reagieren wir auf Jesus? Vertrauen wir auf ihn in Bezug auf unser Leben und auf unseren Tod? Sind wir davon überzeugt, dass er der Einzige ist, bei dem wir Vergebung finden können?

Jesu Begegnung mit Levi

Kurze Zeit nach diesem Ereignis, es ist noch derselbe Tag, befindet sich Jesus wieder draußen am See, um zu den Menschen zu reden (das Haus war eben doch zu beengend). Und während „die ganze Volksmenge“ zu Jesus kommt, gibt es einen, der zurückbleibt: Levi, der Sohn des Alphäus. Er bleibt in seinem Zollhaus sitzen, anstatt Jesu Predigt zuzuhören. Wir wissen nicht genau, was Levi dort im Zollhaus hielt – vielleicht war es die Liebe zum Geld, die Verpflichtung gegenüber seiner Arbeit, vielleicht aber auch die Gleichgültigkeit gegenüber geistlichen Dingen. Ohne Zweifel wird er in seinem Leben schon viel Ablehnung und Desinteresse von „Männern Gottes“ erfahren haben. Umso größer ist da das Wunder, das geschieht, als Jesus Levi ansieht und zu ihm spricht: „Folge mir nach!“ Denn Levi lässt alles stehen und liegen, steht auf und folgt Jesus nach (Mk 2,14).
Hier sehen wir, wie mächtig Jesus Menschen beruft. Wenn du denkst, dass du zu Jesus gekommen bist, weil du klüger oder geistlicher bist als andere, dann irrst du gewaltig. Du kamst zu Jesus, weil er dich aus deiner Verlorenheit herausgerufen hat, so wie er Levi aus seinem Zollhaus herausrief. Du folgst Jesus nicht nach, weil du dich dazu entschieden hast, sondern weil er gesagt hat: „Folge mir nach!“, und weil er seinen Heiligen Geist gesandt hat, der dich „von Herzen willig und bereit macht, ihm forthin zu leben“ (Heidelberger A1).
Was darauf folgt, steht der gesamten Erziehung und Weltanschauung der geistlichen Elite vollkommen entgegen. Denn während Jesus sich vorhin – ihrer Meinung nach – theologisch im Ton vergriffen, sie aber durch sein vollbrachtes Wunder äußerst verunsichert hatte, offenbart er nun durch sein Verhalten, was wirklich von ihm zu halten ist: Jesus wendet sich einem offensichtlichen Sünder zu und verbündet sich auch noch mit ihm.

Das große Fest

„Und Levi machte ein großes Mahl in seinem Haus, zusammen mit einer großen Menge an Zöllnern und anderen, die mit ihnen zu Tisch lagen.“

Lukas 5,29

Schauen wir erst einmal auf das, was die Pharisäer und Schriftgelehrten sahen: Ein gemeinsames Essen und Trinken, wie es dort in Levis Haus stattfand, bedeutete sehr viel mehr als in unserer Zeit und Kultur. Auch bei uns gibt es intensive Formen, um miteinander zu essen – wie auf Familienfesten. Doch andererseits können bei uns auch Kollegen in der Kantine beieinander sitzen, die vielleicht nicht einmal den Vornamen des anderen kennen. In der Orientalischen Kultur ist ein gemeinsames Mahl dagegen – damals wie heute – immer ein tiefer Ausdruck von Freundschaft und Verbundenheit. In den Augen der Pharisäer identifiziert sich Jesus hier mit Levi. Hinzu kommt, dass Männer wie Levi es gewohnt waren, mit Heiden zu essen, da sein Beruf ihn auch eng mit der heidnischen Lebensweise verband. Das bedeutet, dass Levi sich nicht an die strengen Reinheitsgebote der Pharisäer hielt. Das, was hier stattfindet, widerspricht im Grunde allem, was den Pharisäern lieb und heilig war.
Und als wäre all das noch nicht genug, spielte es sich im Haus eines Mannes ab, der sein geistliches Erbe mit Füßen trat. Er hatte sehr wahrscheinlich nicht nur sein Land und seinen Glauben verraten, sein Name Levi lässt auch vermuten, dass er levitischer Abstammung war. „Im ersten Jahrhundert trugen fast ausschließlich Leviten den Namen Levi“ (Mark L. Strauss). Wenn dies tatsächlich so war, hatte er den ehrbaren Dienst am Tempel gegen eine finanziell lukrative Karriere bei der verhassten Regierung eingetauscht. Tiefer konnte man nicht sinken. Ein solcher Kerl wäre noch schlimmer anzusehen als Esau. Wenn Jesus wirklich ein von Gott gesandter Prophet wäre, müsste er dies doch wissen, und er würde den Kontakt zu Levi umgehend meiden. Spätestens jetzt hatte Jesus sich in ihren Augen als unfromm und unseriös zu erkennen gegeben. Ihr Fazit lautet: Dieser Jesus ist „ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern“ (Lk 7,34).
Wir sehen also, aus der Perspektive der frommen Israeliten waren für Jesus die Menschen wichtiger als Gott. Für sie war klar: Wenn Jesus sich bei solchen Menschen wohl fühlt, dann gehört er auch zu ihnen.

Was wirklich geschah

Doch so einfach war es in diesem Fall nicht. Die Feier, von der wir hier lesen, fand sehr wahrscheinlich nicht direkt im Anschluss an Levis Berufung statt, denn Levi brauchte ja noch Zeit, um die „große Menge an Zöllnern und anderen“ einzuladen – und das ohne E-Mail, Telefon und WhatsApp. Vermutlich fand es einen oder wenige Tage später statt; ein guter Zeitraum, um mit Levi intensiv über das Evangelium zu sprechen. Denn das, was dort stattfand, war weit mehr als nur ein Fest. Es war ein Fest, bei dem Levi sein neues Leben mit Jesus feierte. Und es war vor allem Levis Versuch, seine alten Freunde und Weggefährten zu Jesus zu bringen, damit sie ebenfalls diese neugewonnene Erkenntnis und Freude an Gott finden, die auch er in Jesus gefunden hat. Beides waren Aspekte, durch die Levi Gott verherrlichte, und alles, was er tat, ob er aß oder trank, er tat es zur Ehre Gottes (1Kor 10,31).
Doch alles, was die Pharisäer sehen, ist, dass Jesus „mit den Zöllnern und Sündern“ is(s)t (Mt 9,9-11; Mk 2,13-16; Lk 5,27-30). Sie hatten keinen Blick fürs große Ganze.
Leider änderten sie ihren Blick auf das Ganze auch dann nicht, als Jesus ihnen den Grund für die Feier nannte, und zwar, dass er für „die Kranken“ gekommen war, um sie „zur Umkehr zu rufen“ (Lk 5,31-21). Leider treten immer wieder Neid, Missgunst und Lieblosigkeit als Grundhaltung des ganzen Pharisäertums an verschiedenen Stellen sehr deutlich zu Tage. Situationen, in denen Jesus Kranke heilte, waren für die Pharisäer ein Ärgernis. Sie fragten nur danach, ob Jesus sich dabei auch an die Regeln gehalten habe (vgl. Lk 7,16; vgl. Joh 9,8 ff. u.a.). Ihre größte Sorge war, dass ihr Einfluss verloren gehen könnte. Ihnen ging es nur um sich selbst.

Und wir?

Auch wenn wir als Christen in unserer Stellung zu Jesus ganz klar von den Pharisäern zu unterscheiden sind, passiert es nicht selten, dass wir uns wie solche Verhalten. Andererseits können wir aber den Aspekt, „Freund der Sünder“ zu sein auch völlig falsch verstehen und dabei genau das tun, wovor uns Sprüche 1,10 warnt.

  • Die Pharisäer verurteilten Jesus, weil sie sich für etwas Besseres hielten als andere. Unter Christen ist diese Denkweise auch häufiger vorhanden als mir lieb ist. Nicht selten schauen wir auf andere herab, weil sie nicht dem entsprechen, was wir für gut oder anständig halten. Jesus hat uns ein Vorbild hinterlassen, indem er sich um die Armen, die Ausgestoßenen, die Randgruppen gekümmert hat (vgl. Lk 7,22). Genau das sollten auch wir tun. Wir sollten diesen Menschen dienen, bei ihnen sein und auch von ihnen lernen. Ja, wir können dabei Gefahr laufen, dass man uns dann für Außenseiter hält, für seltsam oder rückständig. Aber Überraschung! Wenn wir wirklich Jesus nachfolgen, wird man uns ohnehin für seltsam halten.
  • Andererseits können wir auch hierbei Gefahr laufen, zu vergessen, dass wir „ein gutes Zeugnis haben [sollten] von denen, die draußen sind, damit er nicht in übles Gerede und in den Fallstrick des Teufels gerät“ (1Tim 3,7). Auch wenn sich dieses Kriterium in erster Linie an Älteste richtet, gilt es doch für jeden Christen. Mit ungefähr 20 Jahren führte ich noch kein Leben mit Jesus. Ich war fest davon überzeugt, dass die Menschen Jesus brauchen, und dass ich Gottes Sache vertreten würde, indem ich saufend und kiffend auf Partys sitze und mit den Menschen über Jesus rede. Dass ich dadurch aber leugnete, dass Jesus gekommen war, um zur Umkehr zu rufen, verstand ich nicht. Was ich vermittelte, war eine billige Gnade, die Jesus darstellte, als wäre er ein Sünder unter Sündern, und als ließe er Kranke krank bleiben. Wir sollen uns um ein vorbildliches, ordentliches Leben bemühen, aber nicht mit dem Ziel, gemocht oder bestaunt zu werden, und erst recht nicht, um dann auf andere herabzusehen, sondern um die Kraft des Auferstandenen Herrn zu bezeugen (vgl. Röm 6,11 ff.). Wir sind in dieser Welt, um zu dienen, nicht um bedient zu werden. Wir sollen lieben und uns nicht bemühen, beliebt zu sein. Wir sollen anderen zum Segen dienen. Denn unser guter Ruf besteht darin, dass man uns kennt als Dienende, Liebende und die, die andere segnen. „Niemand hat jemals reumütige Sünder so liebevoll aufgenommen wie Jesus, aber niemand wandte sich je schärfer gegen Sünde als er“ (Kevin DeYoung).

Das Wichtigste, das wir den Menschen somit weitergeben und vorleben können, ist, dass Jesus der Herr ist. Er ist der auferstandene König des Universums. Er lebt und regiert in seiner Barmherzigkeit und Liebe die ganze Welt. Und er befiehlt allen Menschen an allen Orten, umzukehren, mit ihrem sündigen Leben zu brechen und nach Hause, zu Gott zu kommen. Das ist die herrlichste Nachricht, die es gibt. Aber sie ist auch umstritten. Wenn wir daran festhalten und das bekennen, werden einige Sünder nicht mehr unsere Freunde sein wollen. Dennoch bleibt diese Nachricht die beste Nachricht für Sünder.
Wenn diese Wahrheit unser Leben beeinflusst und in unseren Beziehungen zum Tragen kommt, werden wir dem Vorbild unseres Erlösers folgen. Wenn das Wunder des Evangeliums der Gnade Gottes die Art und Weise bestimmt, wie wir, als aus Gnade gerettete Sünder, über andere Menschen um uns herum denken und mit ihnen umgehen, dann werden wir nicht nur gute Freunde sein, sondern die besten „Freunde der Sünder“, die sie sich nur wünschen können.

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