Die Kreuzzüge
Die Bibel kann ein gefährliches Buch sein – wenn sie missbraucht wird! In der Kirchengeschichte haben Fehlinterpretationen von Bibeltexten zu einigen ernsten Problemen geführt – von falschen Lehren und Traditionen bis hin zu völlig fehlgeleiteten Lebensweisen. Eines der krassesten Beispiele dafür finden wir in den Kreuzzügen, einer Reihe von Kriegen während des Mittelalters, angestiftet und ausgeführt von Europäern, im Namen Jesu, gegen islamische Staaten im Nahen Osten.
Die (vermeintliche) Rechtfertigung der Kreuzzüge
Die Vorstellung, dass Christen selbst das Schwert gebrauchen können, um ihre Interessen durchzusetzen, wurde durch Bibelverse wie die folgenden gerechtfertigt: „Und alle Könige sollen vor ihm niederfallen, alle Nationen ihm dienen“ (Ps 72,11). „Fordere von mir, und ich will dir die Nationen zum Erbteil geben, zu deinem Besitz die Enden der Erde. Mit eisernem Stab magst du sie zerschmettern, wie Töpfergeschirr sie zerschmeißen“ (Ps 2,8-9). Und, „Der Herr zu deiner Rechten zerschmettert Könige am Tag seines Zorns. Er wird richten unter den Nationen, er füllt Täler mit Leichen. Das Haupt über ein großes Land zerschmettert er“ (Ps 110,5-6).
Diese Verse zu gebrauchen, um im Namen des Christentums Gewalt zu rechtfertigen, verfehlt jedoch völlig die eigentliche Bedeutung dieser Texte. Denn in Wahrheit beziehen sie sich auf die Ausbreitung von Jesu geistlichem Königreich in dieser Welt und vom Gottes Endgericht am Ende der Zeit. Dass Jesu Botschaft unbedingt eine gewaltlose Botschaft ist, wird aus vielen Stellen ersichtlich:
„Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht! … Vergeltet niemand Böses mit Bösem … Wenn möglich, soviel an euch liegt, lebt mit allen Menschen in Frieden! Rächt euch nicht selbst, Geliebte, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes!“ (Röm 12,14.17-19).
„Zieht die ganze Waffenrüstung Gottes an, damit ihr gegen die Listen des Teufels bestehen könnt! Denn unser Kampf ist nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Weltbeherrscher dieser Finsternis, gegen die geistlichen Mächte der Bosheit in der Himmelswelt“ (Eph 6,11-12).
„Denn obwohl wir im Fleisch wandeln, kämpfen wir nicht nach dem Fleisch; denn die Waffen unseres Kampfes sind nicht fleischlich, sondern mächtig für Gott zur Zerstörung von Festungen; so zerstören wir überspitzte Gedankengebäude und jede Höhe, die sich gegen die Erkenntnis Gottes erhebt, und nehmen jeden Gedanken gefangen unter den Gehorsam Christi“ (2Kor 10,3-5).
Die Anfänge der Kreuzzüge
Die Idee der Kreuzzüge kam im Europa des 11. Jahrhunderts auf und bestand, zumindest als Ideal, bis ins 16. Jahrhundert. Zwischen 1096 und 1229 gab es fünf große Kreuzzüge, die das eine Ziel verfolgten: Jerusalem sollte aus der Hand der Ungläubigen befreit und für Gott zurückerobert werden. Diejenigen, die in ihren Predigen zu den Kreuzzügen aufriefen, erinnerten ihre Zuhörer immer daran, dass der Mittlere Osten und Nordafrika bis zur islamischen Eroberung im 7. und 8. Jahrhundert christliche Gebiete gewesen waren. Mohammed starb 632 und kurze Zeit später, 638, hatten islamische Truppen Jerusalem eingenommen. Tatsächlich waren islamische Armeen sogar bis nach Italien, Spanien und Frankreich vorgedrungen, bis sie 732 bei Poitiers in Frankreich gestoppt wurden. Im Jahr 841 plünderten islamische Soldaten den Petersdom in Rom. Im 15., 16. und 17. Jahrhundert bedrohte ein wiedererstarkter Islam Europa von Osten her, indem die Muslime Konstantinopel (im Jahr 1453) eroberten und bis zu den Toren Wiens kamen.
So wie die plötzliche Energie und der Erfolg der frühen Ausbreitung des Islams uns überraschen mag, so sehr fragt man sich heute, was das westliche Europa dazu motivierte, den Krieg gegen die islamischen Nationen im Nahen Osten auszurufen. Schließlich befand sich Jerusalem seit über vierhundert Jahren unter islamischer Gewalt. Im späten 11. Jahrhundert kursierten Berichte (von denen sich viele später als unwahr herausstellten) darüber, dass christliche Pilger auf dem Weg nach Jerusalem überfallen oder verfolgt würden. Peter der Einsiedler behauptete, dass er in der Heiligen Grabeskirche eine göttliche Vision empfangen habe, in der Christus alle Gläubigen dazu aufrief, Jerusalem von den Ungläubigen zu befreien. Der byzantinische Kaiser in Konstantinopel bat den Westen ebenfalls um Hilfe gegen den Islam.
Die Idee eines Kreuzzuges gegen den Islam, dessen Anhänger Jerusalem besetzt und die Christen unterworfen hatte, wurde besonders von Papst Urban II auf dem Konzil von 1095 aufgegriffen und verkündigt. Urban erklärte:
„In Bezug auf diese Angelegenheit ermahne ich euch mit flehendem Gebet – nicht ich, sondern der Herr – als Herolde Christi alle zu überreden, gleich welchen Standes, sowohl Ritter als auch Lakaien, Reiche und Arme, in vielfältigen Edikten danach zu streben, diese böse Rasse aus unseren christlichen Ländern zu vertreiben, bevor es zu spät ist. Ich spreche zu den Anwesenden. Ich sende Worte zu denen, die nicht hier sind; außerdem ist es ein Befehl Christi. Vergebung der Sünden wird denen gewährt, die dort hingehen, um ein geknechtetes Leben zu beenden. Sei es an Land oder bei der Überquerung des Meeres oder im Streit gegen die Heiden. Ich, der ich mit diesem Geschenk Gottes ausgestattet bin, gewähre dies Erlösung denen, die gehen.
O was für eine Schande, wenn ein Volk, so verachtet, entartet und von Dämonen versklavt, ein Volk überwinden sollte, das mit dem Glauben an den allmächtigen Gott betraut ist und im Namen Christi scheint! O wie viel Böses wird dir von dem Herrn selbst angerechnet werden, wenn du nicht denjenigen hilfst, die gleich dir, sich zum Christentum bekennen!
Lasst diejenigen, die es gewohnt sind private Kriege selbst gegen Gläubige verschwenderisch zu führen, nun gegen die Ungläubigen in den Krieg ziehen, der es wert ist, jetzt geführt und im Sieg beendet zu werden. Lasst nun diejenigen, die noch bis vor kurzem als Plünderer gelebt haben, Soldaten Christi werden … Jene, die kürzlich noch für einige Silberstücke angeheuert wurden, sollen nun ihre ewige Belohnung erhalten.„
Urban bat die Christen, als eine geistliche Pflicht und für eine geistliche Belohnung, das Schwert zu nehmen, um die Feinde Christi zu töten. Diese Predigt war möglicherweise der erste Moment in der Kirchengeschichte, in dem der Krieg als legitimes Mittel verkündigt wurde, um die Interessen der christlichen Kirche durchzusetzen. Während Urban nur denen die völlige Vergebung der Sünden versprach, die in den Kreuzzügen starben, erweiterten spätere Päpste diese Zusage auf alle, die nur am Kreuzzug teilnahmen. Die Christenheit wurde auf eine völlig neue Art und Weise militarisiert.
Der Erfolg der Kreuzzüge
Der erste Kreuzzug war auf gewisse Weise erstaunlich erfolgreich. Europäische Streitkräfte zogen 1096 aus und hatten Jerusalem nur drei Jahre später erobert. Das lateinische Königreich von Jerusalem wurde in diesem Jahr gegründet und überlebte bis ins Jahr 1187. Auch andere lateinische Staaten wurden gegründet. Die Kosten dieses Erfolges waren jedoch hoch: Hundertausende starben, und das schreckliche Massaker, das die Kreuzritter in Jerusalem anrichteten, hat den Ruf der christlichen Kirche unter Muslimen bis heute ernsthaft geschädigt.
Der dritte Kreuzzug (1189-1192) konzentrierte sich wieder darauf, Jerusalem einzunehmen, und wurde von den bemerkenswertesten europäischen Herrschern angeführt: dem römisch-deutschen Kaiser Friedrich Barbarossa I., König Philip II. von Frankreich und König Richard (Löwenherz) von England. Ihr Gegner war der islamische Anführer Saladin. Viele heldenhafte Erzählungen erzählen von diesem Kreuzzug (darunter auch die bekannte Geschichte von Robin Hood und dem bösen Prinz John, der seinen Bruder König Richard in dieser Zeit vertrat). Allerdings verlief dieser Kreuzzug wenig erfolgreich. Man schaffte es nicht, Jerusalem einzunehmen.
Der vierte Kreuzzug (1200-1204) war noch erfolgloser. Die Kreuzfahrer wurden nach Konstantinopel umgeleitet, wo es zu Streitigkeiten unter verschiedenen Anwärtern auf den byzantinischen Thron kam. Im Jahr 1204 attackierten die Kreuzfahrer das christliche Konstantinopel und Gewalt und Zerstörung waren die Folge. Große Kunst- und Kulturwerke wurden zerstört, viele Artefakte gestohlen und nach Westen verschifft, wo sie (besonders in Venedig) noch heute zu finden sind. Der Westen errichtete das lateinische Imperium von Konstantinopel (1204-1261) und der Papst erschuf ein lateinisches Patriachat, das Rom unterstellt war. Beide Handlungen führten jedoch zum Zerbruch zwischen den byzantinischen Orthodoxen und den westlich-katholischen Christen, und obwohl das byzantinische Imperium im Jahr 1261 wiederhergestellt wurde, erholte es sich nie von dem Trauma dieses Kreuzzuges.
Der fünfte Kreuzzug wurde von Friedrich dem Großen, dem Enkelsohn Barbarossas angeführt. Er erhielt durch geschickte Verhandlungen die Kontrolle über Jerusalem, indem er Juden, Christen und Moslems freien Zutritt zur Stadt versprach. Für diesen Kompromiss wurde Friedrich von Papst Gregor IX. exkommuniziert.
König Louis IX. von Frankreich versuchte 1248 und 1270 erneut einen Kreuzzug anzuführen, aber obwohl er recht fromm war, war er kein effektiver militärischer Führer. Er starb 1270 in Ägypten und wurde zum Heiligen erklärt – damit ist er der einzige Kreuzfahrer, der von der Katholischen Kirche heiliggesprochen wurde.
Die Kreuzzüge – Ein Fazit
Die Kreuzzüge waren ein ständiges Versagen darin, Jerusalem unter christliche Kontrolle zu bringen. Im Gegenzug bewirkten sie viele andere Dinge: Sie stärkten die Macht und den Einfluss des Papstes über die Kirchen in Europa; sie schwächten das byzantinische Reich nachhaltig, das weiterhin Gebiete an den Islam verlor, bis schließlich Konstantinopel fiel; aber der vermutlich größte und nachhaltigste Schaden ist das gewalttätige Bild, das islamische Völker vom Christentum und dem Westen haben.
Die Brutalität, die während dieser Kreuzzüge von beiden Seiten ausging, ist unaussprechlich. Bis heute sehen viele Moslems das Christentum als eine gewalttätige Religion und eine Gefahr an und übertragen ihre muslimische Überzeugung, dass Religion und Staat eine Einheit bilden, auf den Westen, sodass ein Dialog heute vielerorts kaum möglich ist.
Doch das Entscheidendste, das wir aus den Ereignissen um die Kreuzzüge lernen können, ist der große Schaden, den diese Kriege dem Evangelium und der Sache Jesu angerichtet haben. Schon allein der deutsche Begriff „Kreuzzug“, sowie das englische Wort „crusade“, das aus dem Französischen kommt und „der Weg des Kreuzes“ bedeutet, vermitteln etwas völlig Falsches. Es ist ein Verrat an Christus, der Sein Leben am Kreuz hingab, um seine Feinde zu retten, der Ungerechtigkeit erduldete, um Frieden zu schaffen. Doch in den Kreuzzügen wurde er als jemand dargestellt, der dazu aufruft, seine politischen Feinde abzuschlachten. Als Christen müssen wir immer versuchen, die Sache Christi durch die Wahrheit voranzutreiben, verbunden mit Liebe und Aufopferung, und nicht durch Gewalt.
© Ligonier Ministries @ Tabletalk Magazine. Die Wiedergabe erfolgte mit freundliche Genehmigung.