Freude ueber das Wort

Die Freude über das Wort

Meine kleine Schwester unterhielt sich gerne leise mit sich selbst. Bei Familienausflügen in den alten Tagen, als Kinder noch keine Sicherheitsgurte anlegten, machte ich es mir auf der Hutablage am Heckfenster bequem und lauschte den Gesprächen meiner Eltern auf den Vordersitzen, das hauptsächlich durch das beruhigende Flüstern der leisen Antworten meiner Mutter zu hören war.

Oftmals schlief ich dabei ein, insbesondere dann, wenn ich nicht verstand, worüber sie redeten. Aber manchmal bemerkte ich aus den Augenwinkeln meine kleine Schwester Sharon. Sie starrte aus dem Fenster und wiederholte die letzten Worte, die jemand gesprochen hatte. „In zehn Minuten werden wir da sein“, kündigte mein Vater an, woraufhin meine Schwester flüsternd wiederholte: „Zehn Minuten, zehn Minuten, wir werden da sein in zehn Minuten.“

Selbst mit meinen sechs Jahren achtete ich darauf, wie die Worte klangen, die sie murmelte und war fasziniert von der Art, wie sie sie zu genießen schien. Bald probierte ich es selbst aus und genoss das Gefühl, wenn sie wie Seifenblasen aus meinem Mund sprudelten, voller Bedeutung und Geheimnis. (Geheimnis, Geheimnis, Bedeutung und Geheimnis.) Die ganze Zeit über hob und senkte sich die sanfte Stimme meiner Mutter wie das Rauschen der Meereswellen auf dem Vordersitz des Dodge Colt.

Ich war von Worten umgeben. Bücher säumten die Flure meiner Kindheit. Kommentare zum Römerbrief, Epheserbrief und den Evangelien standen auf einem Regal und darunter die Klassiker von Twain, Poe, Dumas und Dickens. Wir lernten die Reihenfolge der biblischen Bücher auswendig und ich erinnere mich an die Freude die ich empfand, wenn ich das rhythmische Finale des Alten Testaments zum Besten gab: „Zephaniah, Haggai, Zechariah, Malachi.“[1]

Auf Gemeindefreizeiten half ich anderen Kindern beim Auswendiglernen der Bibelbücher und -verse und bei der Aussprache schwieriger Worte. Wenn der Leiter jemanden suchte, der den Text laut für alle vorlas, schnellte meine Hand nach oben. So eifrig wollte ich zeigen, wie gut ich „Melchizedek“ und „Metuschelach“ beherrschte. Und jedes Kind eines Predigers weiß, dass von allen Dingen, die einem dabei helfen eine lange Predigt durchzustehen, neben dem „Kritzeln auf dem Gottesdienstprogramm“ und der „Toilettenpause in der Mitte der Predigt“, das „Stöbern im Gesangsbuch“ wohl das Unauffälligste und Zugänglichste ist.

Oh, die archaische Sprache der Hymnen. Die geordneten Reimschemata, die nicht gesungenen dritten Strophen, die seltsam verkürzten Wörter (Der alt‘ böse Feind, Mit Ernst er’s jetzt meint, Groß‘ Macht und viel List, Sein‘ grausam‘ Rüstung ist, Auf Erd‘ ist nicht seinsgleichen.), die in einem kastanienbraunen, gebundenen Gesangbuch zu finden waren, während mein Vater jeden Sonntagmorgen und -abend predigte.

Doch zurück zu meiner Schwester.

Irgendwann hatte ich die Fähigkeit entwickelt (und vielleicht auch perfektioniert), die man gemeinhin als „necken“ oder, genauer gesagt, als „ein großer Idiot sein“ bezeichnet. Zuerst war es nur der Unfug eines älteren Bruders, aber bald wurde es ernster. Ich benutzte Wörter wie „dumm“ und „Schwachkopf“, und natürlich bekam ich deshalb Probleme. Ich behauptete zwar, dass ich nur Spaß machte und es nicht ernst meinte, aber im Grunde wusste ich, dass meine Worte meine Schwester verletzten. Und es war ihr Schmerz, der meine Aufmerksamkeit erregte. Ich realisierte, dass Worte Macht hatten. Man kann mit ihnen genauso gut Schläge austeilen, wie man mit ihnen segnen kann. Ich habe mich inzwischen bei meiner Schwester entschuldigt – mit Worten versteht sich.

Das alles erinnert mich an eine andere prägende Erfahrung. Auf einer Gemeindefreizeit musste ich Johannes 1,1 auswendiglernen. Aus irgendeinem Grund hat mich dieser Vers und der Rest des Johannes-Prolog fasziniert. Der Text ließ mich nicht mehr los und war für mich wie ein geheimer Ort im Wald, den ich immer wieder aufsuche, ohne zu wissen warum.

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles wurde durch dasselbe, und ohne dasselbe wurde auch nicht eines, das geworden ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen (Joh 1,1-4).

Ich wusste damals nicht, was das bedeutet, aber ich mochte es. Diese Worte über das Wort, die so offensichtlich lieblich und doch von tieferer Bedeutung waren, bewegten mein Herz, seit ich ein Junge war. Wer war dieser Johannes, fragte ich mich, und wer war dieses Wort?

Johannes kannte Jesus persönlich. Kannst du dir vorstellen, so etwas über jemanden zu schreiben, mit dem du zu Abend gegessen hast? Entweder war Johannes übergeschnappt oder Jesus war Gott. Ich flüsterte diese Worte, während ich unter meiner Star Wars Bettdecke lag und auf die Leuchtsticker an meiner Zimmerdecke starrte: „Das Wort war Gott. In ihm war das Leben … in ihm war das Leben … Leben. Gott. Wort. Leben.“

Irgendwann übergab ich mein Herz diesem Wort, das sich über lange Zeit in einem leisen, beständigen Murmeln bemerkbar gemacht hatte, gleich dem beruhigenden Flüstern meiner Mutter. Und in meinem Herzen, formte sich ein Wunsch. Als ich neunzehn Jahre alt war, bat ich meinen Vater, ein Lied in der Gemeinde singen zu dürfen. Nein, versicherte ich ihm, ich dachte nicht an einen Song von Van Halen.

Es war ein Lied über das Evangelium. Während des ganzen Liedes hatte ich Tränen in den Augen. Ich hatte bereits lange zuvor die Macht der Worte verstanden, aber ihren wahren Zweck verleugnet, der darin besteht, das Reich Gottes zu verkündigen, die Aufmerksamkeit auf das Wort zu lenken, das selbst Gott ist, und zu seiner Ehre von seiner Liebe zu erzählen.

Zwanzig Jahre später kann ich die Augen schließen und seine Freude spüren, als ich endlich von seiner großen Gnade und Macht sang. Ich war erschüttert, dass meine Worte so lange so böse gewesen waren. Dieselbe Zunge, die im Dienst der Finsternis gestanden hatte, sagte schließlich in müder und freudiger Ergebung: „Es werde Licht!“ Und weißt du was? Es wurde Licht. Halleluja.

Nun geh, und wiederhole diese Worte ein paar Mal für dich selbst.


[1] Im Deutschen reimen sich diese Bibelbücher – „Zefanja, Haggai, Sacharja, Maleachi“ –  leider nicht so, wie im Englischen (Anmerkung des Übersetzers).

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