Was unsere Welt so dringend braucht
Es ist passiert. Das, womit viele schon lange gerechnet hatten, was nicht passieren durfte, aber doch ist es ein Wunder, dass es nicht schon viel früher passiert ist. Vergangenen Dienstag erschoss der Anwalt und Jurist Kenneth Darlington aus Wut zwei „Umweltaktivisten“ auf offener Straße. Die beiden Opfer hatten zusammen mit einer Gruppe Lehrer eine Straße blockiert – wie es mittlerweile an vielen Orten der Welt geschieht. Dass es bei dieser Blockade nicht um Abgase und CO2-Ausstoß ging, sondern um eine Demonstration gegen eine Kupfermine, ist dabei völlig egal. Darlington hat zwei Menschen ermordet – der eine war ein Pädagoge, der andere mit einer Lehrerin verheiratet. Mehr weiß man nicht. Aber die Tatsache, dass viele diese Tat nur nicht überrascht hat, sondern nicht wenige auch Verständnis für die Tat äußern, sagt so viel über unsere Welt aus.
Die diesjährige Jahreslosung ist deshalb ein Vers, der sehr gut in unsere Zeit hineinspricht:
„Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ (16,14).
Denn tatsächlich ist die Liebe das, was unsere Welt am dringendsten braucht. Stellen wir uns einmal eine Welt vor, in der alles in Liebe geschieht. Es wäre eine Welt ohne Konflikte, ohne Kriege. Die Menschen in Israel, in Palästina, in der Ukraine, im Sudan, in Myanmar, in Somalia, Mali und an vielen anderen Orten der Welt müssten nicht mehr um ihr Leben fürchten. Aber auch an vielen Orte, an denen scheinbarer Friede herrscht – in den gutbürgerlichen Familien, wo hinter verschlossenen Türen Streit, Hass und Auseinandersetzungen an der Tagesordnung sind – sähe das Leben völlig anders aus. Im Grunde sehnt sich jeder Mensch nach so einer Welt. 1992 sang Michael Jackson in Anlehnung an den Bosnienkrieg in seinem Lied Heal the World darüber, dass die Liebe das einzige ist, das unsere kaputte Welt retten kann:
Es gibt eine Liebe, die nicht lügen kann.
Übersetzung von Michael Jacksons Songtext Heal the World © Sony/ATV Music Publishing LLC
Die Liebe ist stark,
Sie fragt nur danach, wo sie freudig geben kann.
Und wenn wir es nur versuchen, werden wir es erleben.
…
Die Liebe genügt, damit wir gemeinsam
Eine bessere Welt hervorbringen.
Also mach eine bessere Welt.
Heile die Welt,
Mach sie zu einem besseren Ort.
Für dich und für mich und für die ganze Menschheit.
Wenn uns das bewusst ist und wenn wir uns doch alle so sehr nach Liebe sehnen, warum funktioniert das Ganze dann nicht? Warum scheint die Welt immer mehr in Lieblosigkeit zu versinken. Das Problem bei der ganzen Sache ist, dass es eine besondere Art Liebe braucht, eine Liebe, die sehr kostspielig ist. Es ist keine romantische oder sentimentale Liebe. Es ist vielmehr eine Liebe, die liebt, ohne Gegenliebe zu erwarten. Eine Liebe, die bereit sein muss zu geben, auch wenn das Gegenteil zurückkommt. Es ist die Liebe, die Paulus in 1. Korinther 13 beschreibt: eine von Gott gewirkte selbstlose, aufopfernde, geduldige, gütige, rücksichtsvolle Liebe, die dazu führt, dass man nicht mehr den eigenen Vorteil sucht, sondern den des anderen. Es ist dieselbe Liebe, von der Jesus in seiner Bergpredigt spricht:
„Liebt eure Feinde und tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen. Betet für die, die euch Böses tun. … Denn wenn ihr die liebt, die euch lieben, was tut ihr da Besonderes? Auch die Menschen, die nicht nach Gott fragen, lieben die, von denen sie Liebe erfahren … Dann wartet eine große Belohnung auf euch, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein“ (Lk 6,27-28.32).
Und genau hier steht die Welt vor einem Problem. Diese Liebe wäre zwar das Mittel, um die Welt zu einem Ort des Friedens zu machen, an dem Feinde versöhnt werden, allerdings sagt Jesus ganz klar, dass die Welt genau diese Liebe nicht haben kann. Sie ist nur bei denen zu finden, die nach Gott fragen, den Kindern Gottes.
Am Anfang des 1. Korintherbriefes schreibt Paulus, dass das Evangelium für jeden Menschen eine Torheit – heute würde man sagen: „eine schwachsinnige Botschaft“ – ist. Zumindest solange er nicht von Gottes Geist verändert und zu einem Kind Gottes gemacht wurde (vgl. 1Kor 1,18). Dasselbe gilt für die Haltung gegenüber der Liebe, die aus dem Evangelium resultiert. Der natürliche Mensch fragt sich: Warum sollte ich meinen Feind lieben und ihm Gutes tun, wo er mich doch hasst und mir Böses will? Das ist doch schwachsinnig.
Doch wer vor dem Kreuz stand und erkannt hat, wie Gott mit seinen Feinden umgeht; wer eingesehen hat, dass er selbst ein Feind Gottes war, der allein durch Gottes Gnade und Liebe mit Gott versöhnt wurde, weil Christus, Gottes Sohn, sich freiwillig für seine Feinde geopfert hat, um sie zu retten, der muss bereit sein, seine Feinde auf dieselbe Weise zu lieben.Das ist die biblische Grundlage der Nächstenliebe und der Hintergrund vor dem Paulus seine Aufforderung in 1. Korinther 16,14 schrieb: „Alles bei euch geschehe in Liebe.“
Leider besteht immer eine Spannung zwischen dem Wissen, was Gut und Richtig ist, und dem Tun. Deshalb brauchten die Korinther (und auch wir) immer wieder die Ermahnung durch Gottes Wort. Obwohl die Korinther Gottes Liebe und Gnade in Christi Opfer erkannt und ihr Vertrauen darauf gesetzt hatten, gab es teilweise große Streitigkeiten und Parteiungen unter ihnen. Sie hatten in ihrem Umgang miteinander das Evangelium aus den Augen verloren. Damit gefährdeten sie ihr Gemeindeleben und ihr Zeugnis vor der Welt. Sie brauchten Hilfe von außen.
Diese Hilfe wollte Paulus ihnen anbieten. Es war ihm zwar nicht möglich, selbst nach Korinth zu kommen, aber er hatte gute Mitarbeiter, die helfen konnten: Apollos und Timotheus. Das Problem war, Apollos weigerte sich und Timotheus fürchtete sich (vgl. 16,10-12). Warum? Apollos hatte sich in Korinth bereits als sehr nützlich erwiesen und war dort so beliebt, dass er einen eigenen Fanclub hatte (vgl. 1,12; 3,4-6). Doch vermutlich war genau das das Problem, weshalb er sich weigerte und Timotheus sich nicht traute. Denn die Korinther liebten und verehrten Rhetoriker und Philosophen – die Promis und Stars der damaligen Zeit. Apollos wurde aufgrund seiner Eloquenz verehrt und Timotheus wegen seiner Schüchternheit verschmäht. Für die Korinther war nicht die Hauptsache, was man predigte, sondern wie man predigte. Schließlich war Korinth nicht irgendeine Stadt. Es „war das New York, Los Angeles und Las Vegas der antiken Welt“ (Gordon Fee). Auch als Paulus sie das erste Mal besucht hatte, waren die Korinther wegen seines schwächlichen Auftritts zuerst wenig überzeugt gewesen. Daher ist die Tatsache, dass sie trotz ihrer Überheblichkeit ihr Vertrauen auf diese törichte Botschaft vom Kreuz gesetzt und an einen schwachen, gekreuzigten Sohn Gottes geglaubt hatten, ein besonderer Beweis für Gottes souveräne Gnade in der Erlösung (vgl. 1,18-25).
„Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ (16,14) war also nicht einfach eine abschließende Aufforderung, mit Apollos und Timotheus richtig umzugehen, der Satz fasst den gesamten Brief und das gesamte Problem der Korinther zusammen. Besonders gut gefällt mir, wie Moffatt in seinem Korintherkommentar die Situation der Gemeinde zusammenfasst:
„Sie waren tolerant, wo sie hätten streng sein sollen, und intolerant oder lieblos, wo sie Manns genug hätten sein sollen, jene mit Nachsicht zu behandeln, die weniger robust waren.“
James Moffatt: „The First Epistle of Paul to the Corinthians“, S. 276.
Das Beispiel der Korinther zeigt, dass Christen, auch wenn sie sehr begabt sind, immer noch fehlbare Menschen sind – gerechtfertigte Sünder eben. Daher können wir die Welt nicht einfach heilen oder besser machen, und doch fordert uns Gottes Wort dazu auf, uns in allem, was wir tun, von der Liebe Gottes und dem Vorbild Christi bestimmen zu lassen.
Diese Welt braucht uns Christen. Sie braucht uns, damit wir ihr diese Art der Liebe vorleben – trotz unserer Unvollkommenheit. Sie braucht uns, damit wir auf Christus, die vollkommene Quelle dieser Liebe hinweisen. Sie braucht uns aber auch, damit wir ihr aus Liebe und in Liebe bewusst machen, dass es noch immer geltende göttliche Maßstäbe von Gerechtigkeit und Moral gibt, auf deren Grundlage Gott einmal richten wird. Sie braucht uns Christen, damit wir ihnen zeigen, was christliche Nächstenliebe wirklich bedeutet. Wenn wir Jesu Beispiel folgen und bereit sind, unser Leben für andere zu geben – was nicht bedeutet, dass wir buchstäblich für sie sterben, sondern indem wir beispielsweise unsere Zeit, unser Geld und unsere Bequemlichkeit opfern. Wir müssen bereit sein, für andere auf unseren Vorteil zu verzichten, weil Gott unser größter Schatz und Gewinn ist. Auf diese Weise lassen wir Gottes Herrlichkeit und die Schönheit seiner Liebe am deutlichsten in dieser Welt strahlen. Es ist genau diese Liebe, die diese Welt so dringend braucht, die Gottes Geist in uns bewirkt und mit der Gott eines Tages eine neue, vollkomene und ewige Welt aufrichten wird.