Psalm 90 – Unser Leben auf dem Prüfstand
Am Ende des Jahres tut es gut, über die vergangenen Monate zu reflektieren und über die Zukunft nachzudenken. Psalm 90 hilft uns dabei, unser Leben im Angesicht der Ewigkeit zu überdenken.
Das Jahr neigt sich langsam dem Ende zu. Der erste Advent steht vor der Tür, doch dieses Jahr wird sich die Advents- und Weihnachtszeit ganz anders gestalten als die Jahre zuvor.
Normalerweise freue ich mich auf die Adventszeit und versuche, alle wichtigen Termine und Aufgaben bis dahin erledigt zu haben, um das Jahr ruhig ausklingen zu lassen. Doch die vergangenen Monate wecken bei den meisten Menschen keine besinnlichen Gefühle – eher im Gegenteil. Viele Geschäftsleute, die Anfang des Jahres noch optimistisch auf das bevorstehende Geschäftsjahr blickten, sind mittlerweile bankrott. Und viele Menschen – so bleibt es zumindest zu hoffen – haben die weltweite Krise zum Anlass genommen, einmal grundlegend über das Leben nachzudenken.
Die Bibel fordert uns Menschen an vielen Stellen auf, über den eigenen Zustand nachzudenken. Doch insbesondere ein Psalm eignet sich besonders als Leitfaden für eine Selbstreflexion – Psalm 90.
Psalm 90 ist der erste Psalm im vierten Buch innerhalb der Psalmen. Uns mag es beim oberflächlichen Lesen vielleicht so vorkommen, als würde es bei den Psalmen keine Struktur geben. Das ist aber nicht der Fall. Gerade im dritten Buch der Psalmen finden wir viele Klagen. Mit Psalm 90 ändert sich der Ton und die Blickrichtung. Denn wir werden nun zunehmend daran erinnert, dass Gott schon seit jeher ein Zufluchtsort für die Gläubigen gewesen ist. Deshalb lohnt es sich auch weiterhin auf ihn zu vertrauen.
Gott als der Zufluchtsort der Gläubigen
Ein Gebet von Mose, dem Mann Gottes. Herr, du bist unsere Wohnung gewesen von Generation zu Generation. Ehe die Berge geboren waren und du die Erde und die Welt erschaffen hattest, von Ewigkeit zu Ewigkeit bist du, Gott. Du lässt den Menschen zum Staub zurückkehren und sprichst: Kehrt zurück, ihr Menschenkinder! Denn tausend Jahre sind in deinen Augen wie der gestrige Tag, wenn er vergangen ist, und wie eine Wache in der Nacht (Ps 90,1-4).
Psalm 90 ist der einzige Psalm, der Mose als Verfasser angibt. Mose beginnt seine Betrachtungen damit, dass er an die Vergangenheit des Gottesvolkes denkt. Er hält uns vor Augen, dass Gott schon vor Urzeiten eine Wohnung für sein Volk war. Andere Übersetzungen lesen statt Wohnung Zuflucht oder Zufluchtsort.
Dieses Bild der Wohnung/Zuflucht möchte uns neu vor Augen halten, dass Gottes Volk einen sicheren Ort hat, zu dem es fliehen kann, wenn es bedroht wird oder Angst hat. Es ist schrecklich, wenn man in Not ist und nicht weiß, wohin man fliehen soll. Das ist schon bei materieller Not tragisch, doch wie viel mehr noch in geistlicher Hinsicht, wenn man keinen Ausweg mehr sieht!
Und dieser Gott, diese Zufluchtsstätte für den Gläubigen, war schon immer vorhanden. Es gab keine Zeit, in der Gott nicht existierte! Wir stoßen hier an unsere Grenzen, denn unser Verstand kann sich die Existenz Gottes – ein Wesen ohne Anfang und Ende – einfach nicht vorstellen. Mose stellt die Ewigkeit Gottes unserer Vergänglichkeit gegenüber. Er verdeutlicht, dass Gott und wir Menschen nicht zwei unabhängige Wesen im Universum sind, die keinerlei Verbindung zueinander hätten. Es stimmt zwar, dass Gott, als der Ewige, uns Menschen nicht braucht – doch umgekehrt kann das nicht behauptet werden. Denn es ist dieser ewige Gott, der uns das Leben geschenkt hat und es uns wieder nimmt.
Der Psalmist stellt es so dar, als rufe Gott seinen Geschöpfen zu: Kehrt zurück, ihr Menschenkinder! Wörtlich könnten wir auch übersetzen: Kehrt zurück, ihr Söhne Adam!
Das führt uns zurück zum Anfang der Bibel, wo wir lesen:
„Da bildete Gott, der HERR, den Menschen, aus Staub vom Erdboden und hauchte in seine Nase Atem des Lebens, so wurde der Mensch eine lebende Seele“ (1Mo 2,7).
Etwas später lesen wir, nachdem Adam gegen Gott gesündigt hatte, die Fluchworte:
„Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Erdboden, denn von ihm bist du genommen. Denn Staub bist du, und zum Staub wirst du zurückkehren!“ (1Mo 3,19).
Das, was Gott damals zu Adam sagte, gilt jedem einzelnen von uns – den Nachfahren Adams. Wenn unsere Zeit gekommen ist, ertönt der Ruf Gottes „Kehrt zurück, ihr Söhne Adams!“.
Gegen diesen Ruf können wir uns nicht wehren. Wenn Menschen uns rufen, dann sind wir in der Lage, diesem Ruf nicht Folge zu leisten. Vielleicht widersetzten wir uns, vielleicht folgen wir dem Ruf, etwa wenn es sich dabei um unseren Vorgesetzten handelt. Doch egal wie mächtig auch ein Mensch hier auf Erden sein mag: Wenn der Schöpfer von Himmel und Erde uns ruft, dann müssen wir diesem Befehl gehorchen, ob wir wollen oder nicht. Gott fragt uns nicht, ob wir gerade beschäftigt sind oder nicht. Vielleicht lässt er uns ein bestimmtes Werk abschließen und gibt uns Zeit, um uns auf die letzte Reise vorzubereiten, vielleicht aber auch nicht.
Mose bekennt, dass für Gott Zeit relativ ist. Für uns sind tausend Jahre eine überaus lange Zeit. Für Gott ist es wie ein einziger Tag. Dank des Internets können wir heute schnell in Erfahrung bringen, was in unserer Welt vor tausend Jahren, also im Jahr 1020 so los war. Hier eine kleine Auswahl:
- Knut der Große verleiht an Godwin von Wessex den Adelstitel Earl of Kent.
- Otterstadt in Rheinland-Pfalz taucht erstmalig in einer Urkunde auf.
Wir merken schnell, dass uns diese Namen und Ereignisse nichts sagen, wenn wir uns nicht gerade mit dieser Zeitepoche geschichtlich befassen oder einen persönlichen Bezug dazu haben. Für Gott sind diese Ereignisse jedoch noch so aktuell, wie das, was wir gestern getan haben.
Auf der einen Seite ist dieses Wissen um die Ewigkeit Gottes für uns Gläubige ein Trost, wie wir zu Beginn des Psalms gesehen haben. Doch auf der anderen Seite ist es für uns auch eine bedrohliche Vorstellung.
Gott als der allwissende Richter
Du schwemmst sie hinweg, sie sind wie ein Schlaf, sie sind am Morgen wie Gras, das aufsprosst. Am Morgen blüht es und sprosst auf. Am Abend welkt es und verdorrt. Denn wir vergehen durch deinen Zorn, und durch deinen Grimm werden wir verstört. Du hast unsere Ungerechtigkeiten vor dich gestellt, unser verborgenes Tun vor das Licht deines Angesichts. (Ps 90,5-8).
Mose gebraucht hier eindrückliche Bilder für die Vergänglichkeit des Menschen, die allesamt unsere Schnelllebigkeit ausdrücken. Insbesondere das Bild vom Gras, das schnell blüht und verwelkt, ist ein beliebtes Bild in der Bibel, um unsere Vergänglichkeit darzustellen:
„Wie eine Blume kommt er hervor und verwelkt; und wie der Schatten flieht er und kann nicht bestehen“ (Hiob 14,2)
„Alles Fleisch ist Gras, und all seine Anmut wie die Blume des Feldes. Das Gras ist verdorrt, die Blume ist verwelkt, denn der Hauch des HERRN hat sie angeweht. Fürwahr, das Volk ist Gras“ (Jes 40,6-8).
Mose nennt auch den Grund für unser schnelles Abscheiden, nämlich den Zorn Gottes aufgrund unserer Sünde. Auch wenn wir wissen, dass wir alle eines Tages sterben müssen, so sind wir doch häufig von einer Todesnachricht erschreckt und sind darüber bestürzt. Auch wenn die Menschheit schon so lange mit dem Tod vertraut ist, haben wir uns dennoch noch nicht an ihn gewöhnt. Er ist und bleibt der unser Feind, wie die Bibel es beschreibt (vgl. 1Kor 15).
Und alle unsere Sünden werden von Gott eines Tages aufgedeckt. Wir können vieles vor Menschen verstecken, aber nicht vor Gott. Er sieht alles.
Eine realistische Sichtweise auf den Menschen
Denn alle unsere Tage schwinden durch deinen Grimm. Wir bringen unsere Jahre zu wie einen Seufzer. Die Tage unserer Jahre sind siebzig, und, wenn in Kraft, achtzig Jahre, und ihr Stolz ist Mühe und Nichtigkeit, denn schnell eilt es vorüber, und wir fliegen dahin. Wer erkennt die Stärke deines Zorns und deines Grimms, wie es der Furcht vor dir entspricht? So lehre uns denn zählen unsere Tage, damit wir ein weises Herz erlangen! (Ps 90,9-12)
Im Gegensatz zur Ewigkeit Gottes erscheint das Leben der Menschen so jämmerlich kurz. Und das, was wir Menschen in unseren 70 bis 80 Jahren zustande bringen, wird in den meisten Fällen schnell vergessen sein. Die wenigsten von uns werden in die Geschichte eingehen, und selbst diejenigen, die es tun, werden auch irgendwann in Vergessenheit geraten. Gewisse Gräber von berühmten Persönlichkeiten werden gerne und häufig besucht, doch die meisten Namen auf den Grabsteinen sagen uns nichts, wenn wir mit diesen Personen nicht in einer Beziehung standen.
Angesichts dieser harten Wahrheit stellt Mose stellvertretend für das Volk Gottes die Frage: Wer erkennt wirklich, was der Zorn Gottes bedeutet und wer stellt sein Leben in ein vernünftiges Verhältnis zu dieser Wahrheit?
Denn genau darum geht es. Es ist eine Tatsache, dass unser Leben nur sehr kurz ist, doch wer ist bereit, in sich zu gehen und über die Konsequenzen nachzudenken? Wer macht sich wirklich Gedanken über Gott und den eigenen Tod? Zumindest in unserer Gesellschaft verdrängt man lieber den Gedanken an den Tod, als sich bewusst damit auseinanderzusetzen.
Mose nimmt da eine ganze andere Haltung an, denn er bittet Gott: „So lehre uns bedenken, dass wir sterben, damit wir ein weises Herz erlangen!“
Der Psalmist lehrt hier keine Todessehnsucht, vielmehr geht es darum, dass wir eine richtige Sichtweise von Gott und uns haben und unser Leben dementsprechend ausrichten.
Wir sollen nicht so sein wie der reiche Kornbauer aus dem Gleichnis Jesu in Lukas 12, der die Rechnung ohne Gott machte und seinem Leben eine falsche Richtung gab, sodass er am Ende seines Lebens doch nichts gewonnen hatte. Stattdessen sollen wir uns beständig daran erinnern, dass wir auf dieser Erde nur Gast sind, und jederzeit abberufen werden können.
Die Hoffnung der Gläubigen
Kehre wieder HERR! – Bis wann? Erbarme dich deiner Knechte! Sättige uns am Morgen mit deiner Gnade, so werden wir jubeln und uns freuen in allen unseren Tagen. Erfreue uns so viele Tage, wie du uns gebeugt hast, so viele Jahre, wie wir Übles gesehen haben! Lass an deinen Knechten sichtbar werden dein Tun und deine Majestät über ihren Söhnen. Die Freundlichkeit des Herrn, unseres Gottes, sei über uns und festige über uns das Werk unserer Hände! Ja, das Werk unserer Hände, festige du es! (Ps 90,13-17)
In den letzten fünf Versen schwenkt Mose dann von seinen Betrachtungen über unsere Vergänglichkeit hin zu Gott, dem Zufluchtsort der Gläubigen, und greift dann damit den Gedanken von Vers 1 wieder auf.
Mose bittet darum, dass Gott sich seinem Volk wieder gnädig zuwendet. Es ist für uns nicht möglich herauszufinden, in welcher Situation er diese Worte schrieb. Der Psalm ist absichtlich so allgemein gehalten, dass alle Gläubigen zu allen Zeiten ihn für sich persönlich beten können. Auch im sogenannten „Lied des Mose“ heißt es:
„Denn der HERR wird sein Volk richten, und über seine Knechte wird er sich erbarmen, wenn er sieht, dass geschwunden die Kraft und der Sklave und der Freie dahin sind“ (5Mo 32,36).
Hier sehen wir sehr schön, dass das Leben der Gläubigen nicht nur pessimistisch gesehen wird. Trotz der Vergänglichkeit der Menschen weiß Mose dennoch, dass der Gläubige Zeiten der Freude kennt. Doch um wirklich fröhlich zu sein, brauchen wir die Gnade Gottes, das Wissen darum, dass Gottes Segen über unserem Leben steht.
„Lass mich am Morgen hören deine Gnade, denn ich vertraue auf dich! Tu mir kund den Weg, den ich gehen soll, denn zu dir erhebe ich meine Seele!“ (Psalm 143,8)
Mose hat den Wunsch, dass die Zeiten der Mühsal, der Trauer und der Züchtigung Gottes mit eben so vielen Tagen der Freude aufgewogen werden. Er bittet darum, dass Gott sich an seinem Volk verherrlicht, sodass wirklich alle Menschen erkennen können, dass Gott aktiv in ihrem Leben wirkt. Und das nicht nur an ihnen, sondern auch an den kommenden Generationen. Denn zu Anfang hatten wir gesehen, dass Gott eine Zuflucht ist, von Generation zu Generation. Mose stützt sich hier vermutlich auf eine der weitreichendsten Verheißungen, die Gottes Volk gelten:
„Du sollst dich vor ihnen [gemeint sind die Götzen] nicht niederwerfen und ihnen nicht dienen. Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott, der die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern, an der dritten und vierten Generation von denen, die mich hassen, der aber Gnade erweist an Tausenden von Generationen von denen, die mich lieben und meine Gebote halten“ (2Mo 20,5-6)
Diese Zuversicht dürfen wir auch heute noch haben: dass ein besonderer Segen über Familien liegt, die Gott fürchten.
Mose beendet seinen Psalm mit einem Wunsch: Gott möge ihnen freundlich gesinnt sein und über ihr Leben wachen, was sich daran zeigt, dass Gott das Werk ihrer Hände segnet.
Dieser Wunsch ist umso interessanter, wenn wir die erste Hälfte des Psalms anschauen. Mose verzweifelt nicht an unserer Vergänglichkeit. Das Ende vom Lied ist nicht, dass all unser Tun hier auf Erden keinen Wert hat. Nein, sondern dort, wo wir im Willen Gottes leben, da wird Gott Segen schenken und es wird Früchte bringen für die Ewigkeit.
Deswegen ist es nicht umsonst, für die Bekehrung von Menschen zu beten. Deswegen ist es nicht umsonst, wenn wir unsere Zeit in andere Menschen investieren oder unser Geld für die Arbeit in Gottes Reich geben.
Natürlich wird Gott keine Arbeit segnen können, die nicht seiner Absicht entspricht. Aber überall dort, wo wir mit einem ehrlichen Herzen Gott dienen, dürfen wir mit Gottes Segen rechnen und dafür beten.
Und so wünsche ich uns, dass wir am Ende dieses Jahres auf unser Werk für den Herrn zurückblicken, Vergangenes überdenken und Gott erneut darum bitten, dass Er unseren Dienst in den kommenden Wochen und Monaten segnen wird.